Wir kennen die frühen Ikonen der Fotografie als Bilder aus einer fernen Welt in strengem, kühlem Schwarz-Weiß. Die brasilianische Künstlerin Marina Amaral koloriert diese Fotos mit verblüffendem Ergebnis: Die »Migrant Mother«, 1936 von Dorothea Lange in Kalifornien fotografiert, erscheint plötzlich wie ein Mensch, dem wir sehr nahe kommen. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich hält die nachträglich kolorierten Fotos für wahrhaftige Zeitdokumente – echter, sozusagen, als die grau schattierten Originale
Eine der berühmtesten Aufnahmen der Fotografiegeschichte zeigt die »Migrant Mother« Florence Owens Thompson, 32 Jahre alt, mit ihren Töchtern Katherine, Ruby und Norma, fotografiert in einem Camp für Erbsenpflücker am kalifornischen Highway 101
Als wäre es gestern gewesen: blauer statt grauer Himmel über sand- statt anthrazitfarbenen Dünen – und ein Wunder liegt in der Luft. »Seit Jahren hat mich der Gedanke befallen, dass die Menschen fliegen könnten. Diese Vorstellung könnte mich viel Geld kosten – oder gar mein Leben«, schreibt Wilbur Wright im Jahr 1900. Zu dieser Zeit wagen Wilbur und sein Bruder Orville Wright in den Dünen von Kitty Hawk in North Carolina erste Gleitflüge (wie hier im Bild) und am 17. Dezember des Jahres 1903 den ersten bemannten Motorflug der Geschichte. Wilbur Wright stirbt 1912 – an Typhus
Das schwarz-weiße Original dieser Aufnahme, entstanden vermutlich um das Jahr 1880, setzt einem genialen Geist der Neuzeit ein Denkmal: ein Mann wie eine Statue. In Farbe wirkt Charles Darwin dagegen eher wie ein zottelbärtiger alter Herr in den letzten Jahren seines Lebens: freundlich, melancholisch, auch gebrechlich
Paris, 22.Oktober1895:
Die Dampflokomotive des Nachmittagszugs von Granville nach Paris rast in den Bahnhof Montparnasse, durchbricht Prellbock und Bahnhofsmauer und stürzt ein Stockwerk tief auf die Straße. Das Unglück lockt Fotografen an; dieses Bild veröffentlicht das Studio Lévy & Söhne, spezialisiert
auf Postkarten. Für die historisch korrekte Farbgebung von Fassaden und anderen Details recherchiert Marina Amaral
in alten Archiven
Eine Ahnung davon, wie aufwendig die Kolorierung sein kann, vermittelt das Bild vom Hundert-Meter-Lauf bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen: Federbüsche und Messingknöpfe auf den Uniformen der Musikkapelle, Flaggen, Kleider – jede Farbfläche muss eigens angelegt, Licht, Schatten und Textur müssen berücksichtigt werden. Das Rennen gewann übrigens der US-Amerikaner Thomas Burke, Zweiter von links, in der seinerzeit ungewöhnlichen, heute üblichen Starthaltung, mit einer Siegeszeit von zwölf Sekunden
Türkisfarbenes Blau statt nahezu schwarzen Eises: So überwältigend sieht der südpolare Sommer aus, als die Crew der »Terra Nova« im Januar 1911 auf Kap Evans im McMurdo-Sund landet. An Bord: Robert Falcon Scott, der mit seinen Kameraden als erster Mensch den Südpol erreichen will (und am Ende Zweiter wird und dabei ums Leben kommt). Fotograf Herbert Ponting baute seine Kamera in einer Grotte im Innern eines Eisbergs auf und fotografierte den Geologen Thomas Griffith Taylor und den Meteorologen Charles Wright mit der »Terra Nova« im Hintergrund
Mahatma Gandhi marschiert 1930 mehr als 300 Kilometer weit, um gegen die Unrechtsherrschaft der britischen Kolonialherren zu protestieren. Die historischen Schwarz-Weiß-Bilder erzählen von einem gottgleichen Helden, in Farbe sehen wir: Mahatma Gandhi war ein höchst irdischer Mensch, aber ein mutiger
Der Künstler als Manikürist: Frédéric-Auguste Bartholdi modelliert im Jahr 1881 in seiner Pariser Werkstatt den linken Daumen der riesigen Lady Liberty. 15 Jahre dauern die Arbeiten an der Freiheitsstatue, und das Foto ist kein Schnappschuss: Immer wieder engagiert Bildhauer Bartholdi Fotografen, um den Fortschritt der Arbeit zu dokumentieren (und so die Geldgeber zu beruhigen). Die Einzelteile der Skulptur werden als Puzzle von 350 Teilen über den Atlantik verschifft und dort zusammengebaut. Im Jahr 1886 wird die Freiheitsstatue auf Liberty Island vor Manhattan eingeweiht
Einen wichtigen Teil ihrer Arbeit widmet Marina Amaral den Opfern der Naziherrschaft. Das Bild aus dem Warschauer Ghetto lässt in Farbe das Geschehen bedrückend nahe kommen. Das gilt für die verängstigten Ghettobewohner, aber ebenso für den gleichmütig dreinblickenden Soldaten mit dem Gewehr in der Hand: Josef Blösche, brutaler Kriegsverbrecher, 1969 in der DDR verurteilt und hingerichtet
Die heimliche Herrscherin: Cixi, Konkubine des chinesischen Kaisers Xianfeng, übernimmt nach dessen Tod im Jahr 1861 die Macht über das Reich. Zwar darf sie an den Versammlungen der Männer nicht teilnehmen, sie regiert aber de facto als »Kaiserin hinter dem Vorhang«. Das Foto entstand 1903, fünf Jahre vor ihrem Tod
Wir erinnern uns an Albert Einstein als weisen und verschmitzten älteren Herrn. Doch seine ersten bahnbrechenden Arbeiten zur Relativitätstheorie veröffentlichte er in jungen Jahren, mit 26. Das Porträt, das Marina Amaral nun nachträglich kolorierte, könnte etwa in der Zeit entstanden sein, als er den Nobelpreis erhielt, im Jahr 1922
Schon um das Jahr 1940 versah der Schweizer Maler und Druckgrafiker Johann Baptiste Isenring frühe Daguerreotypien von Hand mit Farbe. Später malten geduldige Kunsthandwerker mit feinem Pinsel und Lasurfarbe Papierbilder bunt an. Das berühmte Kuss-Foto, das Alfred Eisenstaedt 1945 am Times Square in New York schoss, kolorierte Marina Amaral am Computer mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms.
"Die Welt von gestern in Farbe" von Marina Amaral und Dan Jones erschienen bei Riva, zeigt mehr als 200 Bilder und kostet 29,99 Euro
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