Während einer verheerenden Polio-Epidemie wird Bjørn Ibsen zum Vater der Intensivmedizin. Aus der Not heraus macht der dänische Anästhesist einen Vorschlag, der heute unzählige an Covid-19 Erkrankte vor dem Tod bewahrt
Im August 1952 verzweifeln die Ärzte im Blegdamhospitalet, dem in Kopenhagen für Infektionskrankheiten zuständigen Krankenhaus. In Dänemark greift eine Polio-Epidemie um sich. Gegen Ende des Monats werden jeden Tag fast neue 50 Patienten eingeliefert. Das verantwortliche Virus attackiert die Nervenzellen. Lähmungen sind die Folge, die bei schweren Verläufen die Atmung lahmlegen. Nur mit künstlicher Beatmung haben die Betroffenen eine Überlebenschance.
Im Blegdamhospitalet gibt es aber nur eine Eiserne Lunge, einen mächtigen Metallkasten, in dem der Patient bis zum Hals steckt, und sechs Kürass-Beatmungsgeräte, die wie ein Brustharnisch angelegt werden. In den ersten Augustwochen sterben 27 der 31 Polio-Kranken, deren Atmung versagt hat. Die Hälfte davon Kinder. „Ich möchte die Lage nicht dramatisieren“, schrieb später Henry Lassen, der Klinikchef, „aber sie war hoffnungslos.“
Bjørn Ibsens Vorschlag sollte die Medizin fundamental verändern
Es war eine der schlimmsten Polio-Epidemien Dänemarks, ja ganz Europas. Und gleichzeitig die Geburtsstunde der Intensivmedizin, die heute Schlaganfallpatienten und Unfallopfern das Leben rettet und die derzeit im Zentrum der Bewältigung der Coronakrise steht. Ohne künstliche Beatmung, ohne Analyse der Atemgase und ohne die Betreuung durch multidisziplinäre Teams hätten vom Coronavirus schwer getroffene Menschen keine Chance.
In seiner Verzweiflung lud der Kopenhagener Klinikchef Lassen Ende August Kollegen zu einem Treffen ein, darunter den jungen Anästhesisten Bjørn Ibsen. Der war kurz zuvor von einem Aufenthalt am Massachusetts General Hospital in Boston zurückgekehrt, wo er die modernen Methoden seiner Disziplin erlernt hatte. Bei dem Treffen machte Ibsen einen Vorschlag, der die Medizin fundamental verändern sollte.
Intubation nur während Operationen eingesetzt
Die damaligen Beatmungstechniken, Eiserne Lunge und der Kürass-Respirator, funktionierten nach dem Unterdruckprinzip: Die Geräte erzeugten ein Vakuum um den Brustkorb, der sich dadurch ausdehnte. Die Luft wurde in die Lunge gesogen.
Ibsen schlug nun vor, umgekehrt vorzugehen: die Luft mit Überdruck in die Lunge zu pressen. Wenn der Überdruck nachlasse, würde der Körper von alleine wieder ausatmen. Zur Beatmung wollte er einen Schlauch durch einen Schnitt unterhalb des Kehlkopfs in die Luftröhre einführen.
Die Intubation setzten Anästhesisten damals während Operationen für kurze Zeit ein, langfristig war sie jedoch noch nicht üblich.
Lassen gab Ibsen grünes Licht. Am 27. August behandelte der seine erste Patientin, Vivi Ebert, ein 12-jähriges Mädchen. Sie war bereits an Armen und Beinen gelähmt, ihre Lunge völlig verschleimt, sie rang nach Luft. Trotz erheblicher Komplikationen gelang es dem Anästhesisten, ihren Zustand durch die künstliche Beatmung zu stabilisieren. Dazu nutzte er eine einfache Technik: Mit einem Beutel wurde ein Gemisch aus 50 Prozent Sauerstoff und 50 Prozent Stickstoff rhythmisch in die Bronchien gedruckt.
Das musste manuell geschehen, mechanische Geräte mussten erst noch erfunden werden. Lassen und Ibsen setzten eine heroische Gemeinschaftsaktion in Gang: Sie rekrutierten Ärzte, Schwestern, Physiotherapeuten von anderen Kliniken – und 1500 Medizin- und Zahnmedizinstudenten. „Nach acht Tagen arbeitete eine große Organisation“, erinnerte sich Ibsen.
Vivi Ebert überlebte die Epidemie
An einem Tag während der Epidemie mussten 75 Patienten gleichzeitig manuell beatmet werden. Um sie am Leben zu erhalten, waren neben 30 bis 40 Ärzten 250 Studenten in mehreren Schichten rund um die Uhr im Einsatz.
Stundenlang saßen sie an den Betten von Erwachsenen und Kindern und drückten per Beutel Luft in deren Lungen. 260 Schwestern pflegten die Opfer. 27 Arbeiter wechselten die Gasflaschen und hielten die Geräte am Laufen. Der Großeinsatz hatte Erfolg: Die Sterblichkeit der Patienten, die auf künstliche Beatmung angewiesen waren, fiel deutlich: von 87 auf 22 Prozent. Während des Polio-Ausbruchs bewahrte Ibsens geniales Konzept damit hunderte Menschen vor dem Tod.
Die Verbesserung der Überlebenschancen beruhte indes nicht allein auf der neuen Art der Beatmung, sondern auf weiteren Ideen Ibsens: Alle Patienten mit Atemproblemen wurden in einer Spezialabteilung zusammengelegt. Teams aus Epidemiologen, Anästhesisten, Chirurgen, Radiologen, Physiotherapeuten und Laborärzten kümmerten sich gemeinsam um sie. Alles Ansätze, die sich in heutigen Intensivstationen wiederfinden.
Ibsens erste Patientin überlebte die Epidemie. Nach einem langen Krankenhausaufenthalt konnte Vivi Ebert nach Hause zu ihren Eltern zurückkehren. Allerdings blieb sie teilweise gelähmt und hatte in der Folge immer wieder Lungenprobleme. 1971 starb sie im Alter von 31 Jahren im Blegdamshospitalet an einer Lungenentzündung.
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