Nach und nach werden die Coronamaßnahmen gelockert. Kinder kehren in Schulen zurück, bald dürfen auch Restaurants und Biergärten wieder öffnen. Warum wir die Lockerungen dennoch nicht unbeschwert genießen können, warum Misstrauen und Angst bleiben werden, erklärt Angstforscher Borwin Bandelow.
Die Sonne scheint, die Biergärten dürfen bald wieder öffnen – genau auf diesen Moment haben wir all die Wochen gewartet. Doch können wir jetzt wirklich entspannt mit einem Bier in der Sonne sitzen? Fühlt es sich richtig an, sich für einen ausgiebigen Einkaufsbummel in der Fußgängerzone zu verabreden? Wollen wir unseren Alltag überhaupt wieder zurück?
„Ja und Nein“, meint Angstforscher Borwin Bandelow. „Natürlich werden Menschen wieder in die Biergärten gehen, sie werden auch wieder einkaufen gehen – aber es wird sich anders anfühlen als zuvor. Und es werden deutlich weniger Menschen sein.“ Denn: Auch wenn sich bei manchen mittlerweile Entspannung verbreitet – es gibt viele Menschen, die noch immer Angst haben. Vor dem Virus, vor einer Ansteckung und vor anderen Menschen.
Entspannung macht sich breit ...
Auf die Frage, wann wir wieder unbeschwert im Biergarten sitzen werden, hat der Psychiater keine Antwort. Er weiß aber, dass sich bei vielen Menschen nach einigen Wochen ein Gefühl der Entspannung breit macht.
„Wenn eine neue, unbeherrschbare Gefahr auftritt, tritt überproportionale Angst auf, aber da gilt eine Vier-Wochen-Regel“, erklärt Bandelow. „Egal, wie groß eine Gefahr ist, egal, ob sie nach dieser Zeit noch besteht – nach etwa vier Wochen nehmen die Menschen sie nicht mehr als so groß und bedrohlich wahr.“
Das habe sich auch in den vergangenen Wochen gezeigt: Während die Maßnahmen bei vielen zunächst große Panik ausgelöst hätten, habe sich nach und nach eine gewisse Akzeptanz und Entspannung breitgemacht. Die Menschen würden dann eher ein kalkulierbares Risiko eingehen – unabhängig von der tatsächlichen Gefahr. „Sie glauben nicht, dass es noch schlimmer wird.“
... aber Misstrauen und Angst werden bleiben
Das gelte jedoch nicht für alle Menschen. Viele Menschen hätten nach wie vor Angst, vor die Tür zu gehen. Wollten auf keinen Fall unter Leute, schon gar nicht unter große Menschenansammlungen. „Die Gefahr der Ansteckung besteht ja weiterhin, besonders für Personen, die einer Risikogruppe angehören“, erklärt Bandelow. Der Blick in andere Länder, in denen es noch keine Lockerungen gibt, in denen die Fallzahlen weiter ansteigen, Maßnahmen sogar verlängert werden, könne stark verunsichern. „Ich glaube, dass viele Leute noch ein sehr mulmiges Gefühl haben.“
Auch Misstrauen spiele eine große Rolle – woher weiß man schließlich, dass der Salat, den man im Biergarten vorgesetzt bekommt, sauber ist? Dass die Gerichte unter Einhaltung aller hygienischen Standards zubereitet wurden? Dass niemand auf das Essen gehustet hat?
„Es bleiben immer Restzweifel“, erklärt Bandelow. „Das Virus ist nicht sichtbar, das macht es so schlecht einschätzbar.“ Im Zuge der Pandemie hätte sich bei vielen Menschen Misstrauen verankert. „Jeder andere ist ein potenzieller Feind, eine potenzielle Virenschleuder“, erklärt Bandelow. „Kurz gesagt: Jeder ist ein potenzieller Mörder. Und dieses Gefühl verschwindet nicht von einem Tag auf den anderen. Das wird bleiben.“
Menschen müssen erst wieder „aus dem Trott“ kommen
Zudem hätten sich viele Menschen mittlerweile mit der Situation arrangiert. „Das mag im ersten Moment paradox klingen – aber die Leute haben sich jetzt daran gewöhnt, zuhause zu sein. Sie müssen erst einmal wieder aus diesem Trott herauskommen, wieder raus wollen.“ Viele hätten festgestellt, dass das „Zuhause bleiben“ gar nicht so schlimm ist.
Neue Normalität: Der Alltag, den wir zurückbekommen, ist ein anderer
Zu Beginn des Lockdowns hätten viele Personen bereits sehnsüchtig auf sein Ende gewartet. Darauf, wieder nach draußen zu gehen, Partys zu feiern, den Sommer „normal“ zu genießen. „Doch es zeigt sich jetzt, dass es nicht ‚normal‘ ist“, erklärt Bandelow. „Es ist nicht so toll, wie sich viele das vorgestellt haben. Die Menschen werden nicht eng umschlungen in schummrigen Kneipen tanzen können – denn das Virus ist noch immer allgegenwärtig.“ Der Alltag, den wir nun zurückbekommen, ist ein anderer als der, den wir kennen.
Überall gelten Auflagen und Sicherheitsbestimmungen. „Wenn Sie in einem Biergarten von einem Kellner mit Mundschutz und Handschuhen bedient werden, an einem Tisch, weit abgegrenzt von anderen Gästen – dann fühlt sich das alles andere als normal an“, erklärt Bandelow. Stattdessen fühle man sich eher, „wie im Warteraum vor einer Operation“. Das trübe den Spaß, die Unbeschwertheit. Und das sorge dafür, dass die Menschen gar nicht erst raus wollten.
Gefühl, Lockerungen kommen (zu) schnell
So überraschend die strikten Maßnahmen vor wenigen Wochen kamen, ebenso überraschend erscheinen vielen nun die Lockerungen, welche die Bundesregierung und die Länder in Aussicht stellen. Viele Gastwirte seien überrascht, „schon wieder“ öffnen zu dürfen. Steckten beispielsweise noch mitten in der Renovierung, hätten noch kein Personal, welches so bald wieder arbeiten könne.
„Manche haben das Gefühl, die Lockerungen kommen zu schnell“, erklärt Bandelow. Sie wollten den Alltag noch gar nicht zurück, fühlen sich noch nicht bereit. „Außerdem haben viele das Gefühl, von der Politik über den Tisch gezogen worden zu sein. Das Gefühl macht sich breit, die harten Maßnahmen seien gar nicht notwendig gewesen, wenn man sie so plötzlich wieder zurücknehmen kann.“
Menschen können nicht in Wahrscheinlichkeiten denken
Die Erklärung für dieses Verhalten: „Viele Menschen können nicht in Wahrscheinlichkeiten denken“. Bandelow erklärt: „Die Entwicklung konnten weder Virologen noch Politiker vor dem Lockdown vorausahnen. Sie mussten sich auf Modellrechnungen und Wahrscheinlichkeiten verlassen und danach handeln.“
Er vergleicht das mit dem Wetter. „Mit einer ‚Regenwahrscheinlichkeit von 50 Prozent‘ können die Menschen nichts anfangen – sie wollen wissen, ob es regnet oder nicht.“ Und genau das konnten Wissenschaftler und Regierung von wenigen Wochen noch nicht sagen.
„Es wird wieder Lebensfreude aufkommen“
Dennoch: Selbst, wenn wir in den nächsten Wochen noch nicht unbeschwert im Biergarten sitzen werden – in anderen Bereichen sorgen die Lockerungen für sehr viel Erleichterung.
„Familien dürfen sich wieder besuchen, Freunde sich wieder treffen“, erklärt Bandelow. „Das tut gut – und ist außerdem gerade für Risikogruppen eine enorme Erleichterung“. Besonders für ältere Menschen, welche in den vergangenen Wochen keinen Besuch von ihrer Familie oder Freunden haben durften. Für diese Menschen habe es sich schrecklich angefühlt, so lange allein zu sein.
„Natürlich, die Besuche und Treffen, das alles klappt nur unter Vorsichtsmaßnahmen – aber dennoch: Da wird bei vielen Menschen wieder Lebensfreude aufkommen.“
Und was denken Sie daran ?