WISSE NNotruf der Wildnis

29.06.2020 17:21

Aufgrund der Pandemie bleiben in Afrika die Safari-Touristen fern: Den Nationalparks und privaten Reservaten fehlen die Einnahmen. Es droht ein Drama für die Menschen- und erst recht für die Tiere.

Das Löwenrudel liegt mitten auf der Straße. Friedlich dösen acht Wildkatzen auf dem von der Sonne aufgeheizten Asphalt, unter ihnen zwei seltene weiße Löwen. Wildhüter Richard Sowry hat die Szene bei seiner morgendlichen Patrouille durch den Krüger-Nationalpark aufgenommen und auf Twitter veröffentlicht. Normalerweise, schreibt Sowry, würden Krüger-Besucher so etwas nicht zu sehen bekommen.

Normalerweise rollen bis zu 5000 Safaritouristen in ihren Autos oder auf den offenen Geländewagen der Reiseveranstalter durch das berühmte Wildtierreservat im Nordosten Südafrikas. Wenn tatsächlich mal ein Löwe die Straße entlangschlendert, stauen sich rasch die Fahrzeuge, Dutzende Objektive richten sich auf ihn. Viele Tiere bleiben da lieber im Busch.

Doch wegen der Pandemie ist der Park jetzt fast menschenleer. Seit Mitte März gilt in Südafrika ein Einreiseverbot für Touristen. Gut zehn Wochen war das Gelände geschlossen. Derzeit dürfen nur wenige Einheimische für nur wenige Stunden die Tore zu Südafrikas wichtigster Touristenattraktion passieren.

Die Corona-Ruhe ermutigt nicht nur die Löwen. Inzwischen trotten auch Nilpferde über die Straßen. Leoparden lungern auf den Rastplätzen für Safaribesucher. Scheue Zwergantilopen inspizieren die Hütten. Elefanten saufen seelenruhig die Pools der Gästehäuser leer. Statt zahlender Gäste nutzen jetzt Hyänen und Giraffen die Greens und Fairways des Golfklubs als Spielwiese- und hinterlassen den Keepern haufenweise Dung.

Geld der Touristen half, Wilderei und Landumnutzung zurückzudrängen

Ähnliche Szenen spielen sich derzeit in Reservaten und Schutzgebieten in aller Welt ab. Im Netz werden Beiträge über die vermeintlich entfesselte Natur begeistert geteilt. Hinter den niedlichen Bildern verbirgt sich jedoch oft ein Problem. Das Ausbleiben der Touristen gefährdet nicht nur viele Arbeitsplätze, sondern auch den Artenschutz. Das gilt vor allem für Safaridestinationen in Südafrika, Namibia, Tansania oder Kenia.

„Rund die Hälfte des Budgets für Schutzprojekte, für Ranger und Sicherheitskräfte wird direkt von den Tourismuseinnahmen bestritten“, sagt Matt Brown, Afrika-Direktor der in dreißig Ländern tätigen US-Umweltorganisation The Nature Conservancy (TNC). Manche Regionen finanzieren ihre Arbeit nahezu komplett über Individualreisende.

Das Geld der Touristen half, Wilderei und Landumnutzung zurückzudrängen und so geschwächte Tierpopulationen zu stabilisieren. Brown befürchtet, dass viele Arten nun erneut an den Rand des Aussterbens gedrängt werden könnten.

Namibia, ein beliebtes Safariland der Deutschen, ächzt ohnehin seit vier Jahren unter einer Dürre. Mit der Corona-Krise stünden nun drei Jahrzehnte Natur- und Artenschutzarbeit auf dem Spiel, sagt Chris Weaver, Namibia-Direktor des Umweltschutzverbandes WWF. „Die Situation ist dramatisch“, mahnt er. Unter anderem seien mehr als achtzig Conservancies gefährdet, Gemeindeschutzgebiete, in denen die Armut bekämpft und gleichzeitig die Wildnis bewahrt werde.

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„Einige Gästefarmen und Lodges werden die Krise wohl nicht überstehen“

Die Gästelodge „Klein-Aus Vista“ im Süden Namibias ist ein magischer Ort, umgeben von majestätischen Gneis- und Granitbergen. Sonnenuntergänge und Sternschnuppenschauer lassen sich hier im Breitbildformat bestaunen. Mithilfe der Lodge bewirtschaften Piet Swiegers und seine Familie 50.000 Hektar Wüstenland. Doch seit Monaten bleiben die Betten leer. Der Umsatz sei um 95 Prozent eingebrochen, rechnet Piet Swiegers am Telefon vor.

Er sagt: „Wir hatten gar keine Wahl, wir mussten mehr als der Hälfte unserer Mitarbeiter kündigen.“ Der Staat habe kaum Geld für Krisenhilfe, bisher sei noch keine Unterstützung ausgezahlt worden. „Einige Gästefarmen und Lodges werden die Krise wohl nicht überstehen“, glaubt Swiegers.

Damit ist auch die Versorgung der letzten Wildpferde Afrikas gefährdet. Hitze und Dürre haben die Urahnen der Tiere, die Truppen von Kaiser Wilhelm vor hundert Jahren in Namibias Süden zurückließen, stark dezimiert. Die Wüstenpferde überleben nur mithilfe des Tourismus.

Doch die Gäste könnten noch lange auf sich warten lassen. Viele Staaten Afrikas stehen erst am Anfang der Pandemie. Südafrika hat angekündigt, die Grenzen für ausländische Urlauber frühestens im Februar 2021 öffnen zu wollen. Reisen innerhalb Afrikas sollen erst im Dezember 2020 wieder möglich sein.

„Alles, was ein Horn trägt, ist nun einem höheren Risiko ausgesetzt“

Nun geht südlich der Sahara die Angst vor der Wilderei um. Corona und die globale Rezession treffen den Kontinent hart. „Die Not könnte viele Menschen dazu treiben, ihre Familien mit Buschfleisch zu ernähren oder nach hochwertigen Wildtieren für den Verkauf zu suchen“, warnt Naturschützer Matt Brown. Zugleich gebe es weniger Wildhüter, die aufpassen können: „Alles, was ein Horn trägt, ist nun einem höheren Risiko ausgesetzt.“

Dass die Sorge vor Wilderei berechtigt ist, zeigt die Situation in Indien. Wie die Organisationen WWF und Traffic berichten, nahm die illegale Jagd dort während der Pandemie innerhalb von sechs Wochen um 150 Prozent zu. Erlegt werden vor allem größere Huftiere, Stachelschweine, Schuppentiere und Affen, aber auch die vom Aussterben bedrohten Leoparden. Knochen, Köpfe und Felle der Wildkatzen erzielen auf dem Schwarzmarkt hohe Preise- als vermeintliche Potenzmittel oder als Trophäen.

Anfang Juni setzte die kleine Insel Chumbe Island an der ostafrikanischen Küste einen Notruf ab. Das einen Kilometer lange und 300 Meter breite Eiland gilt als letztes gesundes Korallenriff-Biotop vor Sansibar. Die Heidelberger Aktivistin Sibylle Riedmiller etablierte hier in den 1990er Jahren das erste private Meeres schutzgebiet der Welt. Ihre Non-Profit-Organisation fördert die Forschung, hält Dynamitfischer fern und ermöglicht einen begrenzten Ökotourismus auf Chumbe.

Nur zwanzig Gäste dürfen sich gleich zeitig auf der Insel aufhalten. Ohne die Ein nahmen kann die Arbeit nicht fortgesetzt werden. „Wenn das Riff und die Insel nicht weiter geschützt werden können, waren über dreißig Jahre Naturschutzengagement vergebens“, appellieren die Mitarbeiter in einem Spenden aufruf.

Weniger Kontrollen, mehr Raubbau

Auf vielen Meeren nutzen industrielle Fischfangflotten die derzeit fehlenden Kontrollen aus und plündern die Gewässer, berichtet die Organisation Greenpeace. Die Meeresschützer haben im Frühjahr 2020 auf Satellitenbildern mehr als hundert Schiffe entdeckt, die ohne gültige Fanglizenz und mit verdeckter Radarkennung in argentinischen Gewässern Jagd auf Tintenfische machten. Die Regierung im Senegal plane im Schatten der Corona-Krise, ihre Fischereilizenzen auszuweiten.

In den Gorillagebieten der Zentralafrikanischen Republik beschäftigt die Artenschützer eine weitere Corona-Sorge: „Für die Menschenaffen besteht die Gefahr einer Ansteckung mit dem Virus, weil sie uns genetisch sehr ähnlich sind“, sagt Ilka Herbinger. Die Biologin betreut für den WWF die Schutzprogramme für die Flachlandgorillas im Kongobecken, unter anderem im Dzanga-Sangha, einem riesigen Regenwaldgebiet im Süden der Republik.

Dem Ebolavirus sind seit Anfang des Jahrtausends bereits Tausende Tiere zum Opfer gefallen. In einem offenen Brief im Fachjournal „Nature“ warnen Wissenschaftler nun vor einer lebensbedrohlichen Corona-Gefahr für die Affen. Seit Ausbruch der Pandemie wurde der Mindestabstand der Wildhüter zu den Tieren auf zwanzig Meter erhöht. Der Tourismus wurde komplett verboten, auch Wissenschaftler dürfen nicht mehr in den Wald.

Wegen der weltweiten Reisebeschränkungen ist es auch vielen anderen Forschern kaum möglich, ihre internationalen Artenschutzprojekte weiter zu betreiben. Das Institut für Biodiversitätsforschung der Smithsonian Institution in den USA hat sämtliche Feldforschung in Afrika, Asien und Südamerika ausgesetzt, darunter Projekte zur Fortpflanzung der bedrohten Spitzmaulnashörner und der chinesischen Großen Pandas.

Wertvolle Zeit verlieren auch die Forscher des Instituts für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin, die das Nördliche Breitmaulnashorn mittels In-vitro-Befruchtung mit eingefrorenen Spermien vor dem Aussterben retten wollen. In Europa wirft die Pandemie beispielsweise ein Programm zur Stärkung der Bartgeierpopulation in den Alpen und Pyrenäen zurück, denn die Jungvögel konnten zunächst nicht über die Grenzen transportiert werden. In Deutschland musste die Aufzucht der einst in Europa ausgestorbenen Waldrappe für ein Jahr ausgesetzt werden.

Mehr Ruhe, mehr Nachwuchs

Gewiss hatte der Lockdown vielerorts positive Effekte für die Natur. Satellitenbilder der NASA dokumentieren, wie sehr die globale Luftverschmutzung zurückgegangen ist. Vom reduzierten Lärm haben Vögel wie Säugetiere profitiert. Im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien genossen die Bären die Ruhe: Nachdem der Park am 20. März schloss, kamen sie aus ihren Verstecken und paarten sich häufiger. Die Population werde sich vervierfachen, mutmaßen die Mitarbeiter. In Thailand, Indien und Florida schlüpften wegen des Ausfalls der Strandsaison mehr Meeres- und Lederschildkröten.

In manchen Weltgegenden haben auch Meeresbewohner bessere Überlebenschancen. Weil Schiffsverkehr, Fischerei sowie Öl- und Gasförderung eingeschränkt waren, erholten sich laut Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel die Fischbestände in Nord- und Ostsee. Die Fangmengen seien wegen Corona um achtzig Prozent zurückgegangen. Das Ziel der EU, die Überfischung in Europa zu stoppen, dürfte zumindest in diesem Jahr erreicht werden.

Viele Effekte werden verpuffen, sobald die Weltwirtschaft wieder in Schwung kommt. Der Kohlendioxidausstoß hat schon jetzt wieder das Prä-Pandemie- Niveau erreicht. Es ist ungewiss, ob die Corona-Erfahrung die Menschheit dazu bringt, dauerhaft weniger zu konsumieren und der Natur mehr Raum zu geben. Zumindest vorübergehend werden aber viele Reisen in die Ferne ausbleiben-auch die zu Afrikas Naturparks.

Wildtierparks laden zur „Sofa-Safari“

TCN-Experte Matt Brown rät daher, dringend, die Finanzierung für die Naturschutzarbeit in Afrika zu überdenken. Das aktuelle Modell, allein vom Fremdenverkehr abhängig zu sein, sei zu fragil, meint er: „Es wird immer wieder Zyklen des Tourismusrückgangs geben, sei es aufgrund einer Pandemie, Terrorismus oder ein es Vulkans in Islan d.“

Reservate wie der Krüger-Park haben inzwischen Online-Safaris gestartet. Man kann die wilden Tiere bequem in HD-Qualität auf den Bildschirm im Wohnzimmer streamen. Noch sind die Angebote kostenlos. Doch in Zukunft könnten die „Sofa-Safaris“ die Möglichkeit bieten, Gebühren zu verlangen. Den seltenen Arten wäre doppelt geholfen. Sie werden beschützt, aber nicht gestört.

 

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