Warum sich Lebensglück nicht erzwingen lässt

17.07.2020 14:47

Obwohl wir unser Leben heutzutage weitgehend frei gestalten können, sind viele Menschen unzufrieden. Der Philosoph Wilhelm Schmid erklärt, worauf
 ein erfülltes Dasein baut und wieso das unbedingte Streben nach Glück ein großes Missverständnis ist

Prof. Dr. Wilhelm Schmid: Lebenskunst bedeutet, sein Le­ben bewusst zu führen. Wer also nicht nur von einem Tag zum nächsten hastet, sondern ab und zu einen Schritt zurücktritt und sich Gedanken darum macht, wie er lebt, und versucht, sich immer wieder neu zu orientieren, der betreibt Lebenskunst.

Das tun doch alle irgendwie.

Meinen Sie? Sicherlich machen wir uns alle permanent Gedan­ken. Aber viel zu selten setzen wir uns hin, um ein wenig Ab­stand zu gewinnen und bewusst nachzudenken. Viele Menschen lassen sich lieber durch ihr Dasein treiben, betrachten sich selbst als Spielball äußerer Kräfte, eilen von Erfahrung zu Erfahrung – statt die auch mal zu reflektieren.

Und wie gelingt das Nachdenken?

Man kann beispielsweise an die Gedanken anknüpfen, die sich Men­schen früher bereits gemacht haben – also etwa die Schriften antiker Philo­sophen zurate ziehen. Bei Sokrates habe ich gelernt, dass man nie aufhö­ren sollte, Fragen zu stellen, und dass es nicht darauf ankommt, definitive Antworten zu geben, sondern den Weg dorthin zu beschreiten. Aristote­les brachte mir bei, wie wichtig es ist, sich selbst ein Freund zu sein, und dass dies eine gute Basis für die Be­ziehungen zu anderen ist. Und von Epikur habe ich erfahren, wie bedeut­sam es ist, zu akzeptieren, dass nicht das ganze Leben aus Vergnügen be­steht, und trotzdem Freude zu haben.

Aber nicht jeder mag die Gedanken antiker Philosophen lesen.

Texte können Anregungen geben. Aber wichtiger als alle Lektüre ist es, selber über das Leben zu reflektieren. Etwa indem man Tagebuch schreibt oder sich von Zeit zu Zeit hinsetzt, um die letzten Tage, Monate, Jahre in Gedanken noch einmal zu durchleben. Ganz gleichgültig, wie Sie es anstel­len – wichtig ist, zwischen dem Alltag und Phasen der Reflexion zu unter­ scheiden. Denn wir können schlecht beides gleichzeitig: leben und über das Leben nachdenken.

Und wieso ist das eine Kunst?

Weil dieser Prozess Kreativität und Neugier erfordert. Das Nachdenken kann mühselig sein, die bewusste Ge­staltung des Lebens ist schwierig, der Übergang vom „So ist es halt“ zum „So soll es sein“ kostet Kraft. Mag sein, dass es manchen leichterfällt, sich Gedanken über das eigene Leben zu machen. Sie haben von Natur aus wohl ein Talent dafür. Aber wichtiger ist: sich dafür zu entscheiden.

Sie haben lange als Begleiter kranker Menschen gearbeitet. Was hat Sie diese Erfahrung gelehrt?

Vor allem eines: Menschen wollen ihr Leben erzählen und leiden darunter, wenn ihnen niemand zuhört. Das ist auch das Verhängnis vie­ler Menschen mitten im Leben. Denn vor allem durch das Er­zählen werde ich mir klar dar­über, wie mein Leben aussieht, welche Zusammenhänge es gibt. Oft nehmen wir unser Da­sein als Ansammlung von Fragmenten wahr und verzweifeln daran – hier eine zerbrochene Beziehung, dort ein schmerzli­cher Verlust. Wenn wir anderen davon erzählen, geschieht zuwei­len Wundersames: Auf einmal offenbaren sich Verbindungen, zeigen sich sinnvolle Verknüp­fungen. Zur Lebenskunst gehört also, anderen zuzuhören – und von sich selbst zu erzählen.

Fällt das Gespräch über das eigene Leben mit den Jahren leichter?

Nein. Denn beim Älterwerden wächst das Bedürfnis nach Er­zählen – und gleichzeitig schwindet die Bereitschaft zuzuhören. Das ist ein so krasses Missverhältnis, dass dies in persönlichen Beziehungen, aber auch gesellschaftlich für Proble­me sorgt. Die Menschen interessieren sich zu wenig füreinander.

Am Willen zum Nachdenken über sich aber scheint es nicht zu mangeln – der Markt für Ratgeber, Coachings und Lebenshilfe boomt

Die Ratlosigkeit der Menschen nimmt immer weiter zu – zum einen in Be­zug auf vermeintlich kleine Fragen: Was kann ich noch essen? Aber auch, wenn sich große Fragen stellen: Wie sollen wir mit unserer Erde umgehen? Über Jahrtausende gab uns die Religion die Antworten; Tradition und Konvention setzten uns Zwängen aus, machten Vorgaben, gaben Not­wendigkeiten vor. Doch heute müssen viele Menschen die Antworten selbst suchen. Und was sie finden, kann nie­mals definitiv sein, immer nur tem­porär und unvollständig. Kurz: Mo­derne bedeutet zwar Befreiung – doch es ist leichter, sich zu befreien, als zu bestimmen, was dann folgen soll. Statt sich an die Bewältigung der Freiheit zu machen, stürzen viele in Ratlosigkeit und Unzufriedenheit. Das ist die Paradoxie der Gegenwart. Daraus erwächst die enorme Sehnsucht.

Nach persönlichem Glück?

Ja, aber das halte ich für ein gewaltiges Missverständnis. Das Leben ist eben nun mal nicht immer gut, es ist polar organisiert. Es macht einen unglücklich, andauernd zu versuchen, das Wohlgefühl zu maximieren. Denn daran werden wir immer scheitern. Wir bewegen uns zwischen Gegensätzen: Erfolg und Misserfolg, Lust und Schmerz, Beschleunigung und Entschleunigung, Beharrung und Veränderung, Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Es gibt kein Leben, das nur auf der einen Seite angesiedelt ist. Zweck einer Lebenskunst kann nur sein, dafür zu sorgen, dass wir auch mit den negativ empfundenen Seiten gut zurechtkommen. Wer aber um jeden Preis glücklich sein will, wird immer unglücklich sein.

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