Vermisste Hilal Ercan Bruder Abbas: Wenn der Täter gesteht, verzeihen wir ihm

02.12.2020 08:46

Am 27. Januar 1999 verschwand die damals zehnjährige Hilal Ercan spurlos, bis heute ist ihr Verschwinden nicht geklärt. Wir sprachen exklusiv mit ihrem Bruder Abbas Ercan über den Vermisstenfall, der sein Leben beherrscht.

Hilal, wo bist du? Eine Frage, die sich ihre Familie seit quälenden 21 Jahren stellt. Als das Mädchen am Zeugnisvergabetag im Januar 1999 gute Noten mit nach Hause bringt, darf es sich im Einkaufszentrum um die Ecke zur Belohnung Süßigkeiten kaufen. Zeugen sehen die hübsche Schülerin noch im Einkaufszentrum in Hamburg-Lurup, am 27. Januar 1999 gegen 13:15 Uhr wurde sie zuletzt gesehen. Nach Hause kehrt sie nie wieder. Dass ihre Tochter nicht einfach weggelaufen ist, da sind sich Kamil und Ayla Ercan sofort sicher, nur wenige Stunden später sucht die Polizei mit einem Großaufgebot nach Hilal. Vergebens. 

Es folgen Hinweise und Aufrufe in der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY … ungelöst" und in der RTL2-Sendung "Ungeklärte Morde – Dem Täter auf der Spur". Doch auch die mediale Aufmerksamkeit bringt Hilal Ercan nicht zurück. Die Sonderkommission "Morgenland" übernahm die Ermittlungen, für die Fahndung nach dem zehnjährigen Mädchen setzten die Behörden eine Belohnung von 20.000 D-Mark aus.

Im April 2005 kommt Bewegung in den Fall. Der wegen Sexualstraftaten an Kindern vorbestrafte Dirk A. aus der Psychiatrie der Asklepios Klinik Nord am Standort Ochsenzoll in Hamburg-Langenhorn gesteht, Hilal entführt und ermordet zu haben. Noch während die Ermittler den von ihm genannten Tatort auf Spuren untersuchen, widerruft Dirk A. sein Geständnis und bestreitet die Tat. Nachgewiesen werden kann ihm nichts. Bis heute ist er der einzige Verdächtige.

Seit 2018 suchen Beamte der Ermittlungsgruppe "Cold Cases" erneut nach Hilal Ercan. Gefunden wurde sie bislang leider nicht. Ein quälender Zustand der Ungewissheit für Hilals Familie. 

Wir sprachen mit Abbas Ercan, dem Bruder der Vermissten. Über den Wunsch der Familie nach Klarheit, wie sehr das Verschwinden seiner kleinen Schwester sein Leben bestimmt und wie er sich an diesen schicksalshaften Tag im Januar 1999 erinnert. 

BUNTE.de: Herr Ercan, Dirk A. gilt bis heute als einziger Verdächtiger im Vermisstenfall ihrer Schwester. Was wünschen Sie sich diesbezüglich von den Ermittlern?

Abbas Ercan: Dass der Fall komplett neu aufgerollt wird. Denn es sind viele Fehler passiert. Zum Beispiel bei Dirk A., dem mehrfach vorbestraften Sexualstraftäter, der in der Psychiatrie sitzt, der wurde 2000 verhaftet. Aber da er ein falsches Alibi vorweisen konnte, das ihm sein damaliger Chef, der auch sein Schwager ist, gegeben hat, wurde er bei den Ermittlungen komplett ausgelassen. Es wurde nicht gegen ihn ermittelt. Erst 2005, als er das gestand. Erst 2005 wurde das Alibi überprüft – und es war falsch! Er wurde also fünf Jahre lang in Ruhe gelassen, was ich als Skandal sehe. Das kann ich bis heute nicht nachvollziehen, warum man dem nicht nachgegangen ist. Den müsste man nochmal genauer beleuchten. 2005 hatte er zweimal gestanden ­– und es zweimal widerrufen. Vieles, viele Indizien, passen meiner Meinung nach auch. Ich halte ihn für den Täter. Warum musste meine Schwester sterben? Wegen so einem kranken Typen!

Am Tag von Hilals Verschwinden wurde ein dunkelblauer BMW gesehen. Zu dem Zeitpunkt hatte Dirk A. einen dunklen BMW gehabt, den er unmittelbar zwei Wochen später ins Ausland verkaufte. Das Auto wurde bis heute nicht gefunden. Das sind Indizien, die sind eigentlich erdrückend. Die Ermittler finden ihn auch sehr verdächtig. Er hat ihnen ja auch Ablageorte genannt, wo er meine Schwester abgelegt hat, es wurde ja auch im Hamburger Volkspark gegraben, da wurde leider auch nichts gefunden. Dann wurde in einer Kiesgrube vergeblich gegraben. Aber er hatte von 1999 ja ein Jahr lang Zeit! 

Sie sagten, würde der Täter gestehen, würden Sie ihm die Chance geben, dass sie ihm verzeihen. Wie schafft man das?

Wenn er gesteht, wenn er uns sagen würde, wo meine Schwester liegt, würden wir ihm auf jeden Fall verzeihen. Denn wir wollen ja nichts von ihm. Das muss dann der Richter entscheiden, was er mit ihm macht. Es ist uns nur wichtig, dass wir endlich Gewissheit haben, wo unsere Hilal liegt, damit wir endlich Frieden und Ruhe haben. Und damit wir bei ihr in der Nähe sein können, dass wir ein Grab haben können. Er hat 21 Jahre gewartet, vielleicht hat er Angst gehabt, die Stelle, an der Hilal liegt, zu nennen. Aber wir wollen ihm die Angst nehmen, wir wollen nur wissen, wo meine Schwester ist. 

Sie haben einen Brief an den Mörder ihrer Schwester verfasst. Was steht darin? 

Dass er sein Schweigen brechen soll, dass er uns alle damit erlöst – sich selbst auch. Und auch die Mitwisser, die haben vielleicht auch einen Schweigedruck. Damit er erneut gesteht und uns sagt, wo meine Schwester ist. Es geht uns darum, dass meine Schwester endlich gefunden wird.

In den Medien war nicht nur die Rede von Dirk A., der die Tat zweimal gestand und widerrief, sondern auch von einem verurteilten Sexualstraftäter, der sich kurz vor Hilals Verschwinden an einem jungen Mädchen verging. Wer ist in Ihren Augen der Täter?

Natürlich ist es nicht auszuschließen. Aber die Polizei hat ja gegen ihn ermittelt und keine Beweise gefunden. Für mich ist niemand auszuschließen. Die Ermittler haben alles versucht und ich bin sehr zufrieden mit ihnen, aber leider hat keiner von ihnen meine Schwester finden können.

Haben Sie selbst auch nach ihr gesucht?

Nein, ich vertraue da zu 100 Prozent der Polizei. Ich habe Hoffnung bei der neuen "Cold Case"-Einheit, es gibt Anhaltspunkte. Die versuchen, ihre Arbeit so gut wie möglich auszuführen.

Wie alt waren Sie, als Hilal verschwand?

Ich war 12.

Welche Erinnerungen an diesen Tag haben Sie noch?

Es war der Tag, an dem es in der Schule Zeugnisse gab. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater sie abgeholt hat, ich noch bis 12.45 Uhr in der Schule war. Und dann bin ich zu einem Klassenkameraden gegangen. Als ich nach Hause kam, sah ich meine Eltern draußen, die Suche nach meiner Schwester hatte schon begonnen. Dann habe ich natürlich auch mitgesucht. Das war nicht erklärlich, dass sie ohne Bescheid zu sagen irgendwo hingeht, das war nicht üblich. Deswegen kann ich mich an den Tag sehr gut erinnern.

Wie verbringen Sie als Familie seitdem den Tag von Hilals Verschwinden?

Mit der Hoffnung, eines Tages die Gewissheit zu bekommen. Jeder Tag ist ein neuer Tag, an dem wir endlich erlöst werden könnten, unseren Frieden finden.

Sähen Sie einen erneuten Aufruf bei "Aktenzeichen XY" als nötig?

Ich würde das begrüßen, wir versuchen alles und lassen nichts unversucht. Der Täter soll sich nicht sicher fühlen. Das ist jetzt 21 Jahre her und es passiert nichts. Wir werden auf jeden Fall hinter ihm her sein, damit er uns endlich sagt, wo meine Schwester ist. Wenn er uns sagt, wo Hilal liegt, werden wir ihm auch verzeihen. Wir werden nicht aufgeben.

Wie sehr beherrscht das Verschwinden ihrer Schwester ihren Alltag?

Wir haben jeden Tag die Hoffnung, dass neue Hinweise reinkommen. Auch wenn der Fall jetzt 21 Jahre zurückliegt, die Hoffnung stirbt zuletzt. Es gibt keinen Tag, an dem man nicht daran denkt. Wir haben nicht mehr die Hoffnung, dass sie am Leben ist. Das ist hart zu sagen, aber wir haben uns auf alles eingestellt. Ich denke jeden Tag an sie, weil ich nicht möchte, dass sie ein zweites Mal stirbt. Und ich weiß, sie schaut mir über die Schulter.

Was gibt Ihnen Kraft?

Dass es Anhaltspunkte gibt, es gibt Zeugen, es gibt ein Geständnis. Es sieht nicht aussichtslos aus. Es ist ja etwas von Zeugen beobachtet worden. Es gibt Beweise, Indizien, zwei Täter. Das gibt mir die Hoffnung, wenn ich da dranbleibe.

Christian B. gilt im Fall Maddie nach so vielen Jahren nun als Verdächtiger. Gibt die Bewegung in diesem Fall auch Ihnen neue Hoffnung?

Ich hoffe sehr, dass der Fall Madeleine aufgeklärt wird. Ich finde aber allgemein, über vermisste Kinder sollte mehr berichtet werden. Dass sie gesucht werden, damit die Leute das nicht vergessen. Die Leute denken ja oft, dass die Fälle nicht mehr aktuell sind oder so. Oft fehlt ja nur das kleine Puzzleteil. Viele kennen auch den Fall meiner Schwester nicht und das überrascht mich. Vermissten Kindern sollte man mehr Aufmerksamkeit schenken.

Unser Interview beendet Abbas Ercan mit einem bewegenden Wunsch: "Er soll uns einfach nur sagen, wo Hilal ist, wir werden verzeihen!"

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