Soziologe Steffen Mau: Die Polarisierung der Gesellschaft ist ein Mythos

31.01.2024 10:13

Überall gehen Menschen gegen rechts und die AfD auf die Straße. Dennoch sagt der Soziologe Steffen Mau, dass sich die meisten Deutschen sich noch immer in der Mitte positionieren. Viele reagierten nur extrem sensibel auf bestimmte Themen – vom Gendern bis hin zur Migration.

Herr Mau, Sie vertreten die These, dass Deutschland weit weniger gespalten ist, als viele annehmen. Wenn Sie zur Zeit die zahlreichen Proteste sehen – von den Landwirten bis hin zu den Demonstrationen gegen rechts: Glauben Sie da selbst noch dran?
Oh ja! Ich fühle mich sogar bestätigt. Lange Zeit hatte man das Gefühl, dass es eine starke Dynamik zugunsten einer rechtspopulistischen Bewegung gibt. Das hat sich durch die massenhaften zivilgesellschaftlichen Proteste neu geordnet. Das waren Massendemonstrationen, wie wir sie lange nicht mehr hatten und in denen die von uns beschriebene "stille Mitte" sich zu Wort gemeldet hat.

Stehen wir vor einem Wendepunkt?
Das lässt sich noch nicht sagen. Ich glaube, es ist eher eine Form der Selbstvergewisserung. In vielen ostdeutschen Klein- und Mittelstädten hatten die Menschen zuletzt das Gefühl, Teil einer hegemonial rechten, völkischen Kultur zu sein – obwohl sie sich dem gar nicht zugehörig fühlten. Die Demos in diesen Städten zeigen ihnen, dass sie doch zur Gesellschaft der Vielen gehören. Diese Form von Selbstvergewisserung kann einen nachhaltigen Effekt haben – und dann zu einem Wendepunkt werden. Wobei ich glaube, dass es dann eher zur Diskursverschiebung in Richtung Realität kommt.

Womit wir wieder bei Ihrer Ausgangsthese wären: Wie kommen Sie darauf, dass die Deutschen gar nicht so polarisiert sind, wie es scheint? Die Debattenkultur zeigt doch ganz offensichtlich etwas anderes.
Das liegt aber an einem vereinfachten Denkmuster. Üblicherweise geht man von zwei gesellschaftlichen Großlagern rund um einen Zentralkonflikt aus.

Migration könnte einer dieser Zentralkonflikte sein, oder Klima oder das Gendern…
Ja, und wir haben uns vorab die Frage gestellt, ob es einen empirischen Beleg für ein Auseinanderdriften von Einstellungen hierzu gibt. Bewegen sich die Gruppen, also etwa Arbeiter- und Akademikerklasse oder Land- und Stadtgesellschaft, bei diesen Zentralkonflikten unterschiedlich?

Und? Tun sie das?
Interessanterweise kaum. Es gibt kein eindeutiges Auseinanderfallen der Gesellschaft in klar konturierte Gruppen oder Lager. Die überwältigende Mehrheit sitzt irgendwo in der Mitte mit sehr heterogenen Einstellungen. Und dann gibt es diejenigen, die in der Karikatur überspitzt dargestellt werden – etwa den chauvinistischen "alten weißen Mann". Das sind zahlenmäßig aber nur sehr wenige Menschen.

Sie haben Ihre Forschungsfrage also klassisch verworfen?
Nein, das würde zu weit gehen. Wir leben weder in einer polarisierten noch in einer Friede-Freude-Eierkuchen-Gesellschaft. Wir sagen: es gibt eine zerklüftete Konfliktlandschaft, die aber anders aussieht, als eine Polarisierung suggeriert. Wir benutzen dafür das Bild von Dromedar und Kamel.

Das müssen Sie erklären.
Ein Kamel hat zwei Höcker, ein Dromedar nur einen Höcker. Eine Kamel-Gesellschaft wäre eine polarisierte Gesellschaft, wo die Positionen sehr weit außen verteilt sind, und dazwischen gibt es nur ein unüberbrückbares Tal. Wir leben hingegen in einer Dromedar-Gesellschaft, wo sich die meisten Positionen in der Mitte befinden. Das heißt aber nicht, dass es keine Ränder gibt.

Könnte man denn sagen, dass der Höcker vom Dromedar flacher geworden ist?
Ja, möglicherweise schon – oder, dass er einen Entzündungsherd am Rand besitzt. Denn eines ist auch klar, und das zeigen meine Kollegen und ich in unserem Buch: Die Ränder sind ein Einfallstor und lassen sich von politischen Parteien gut für ihre Zwecke nutzen. Teilweise ist das auch schon gelungen.

Wie haben Sie das erforscht?
Wir haben repräsentative sozialwissenschaftliche Befragungen über einen Zeitraum von 30 Jahren genutzt. Damit können wir einen Polarisierungsindex bilden. Wenn wir uns zum Beispiel die Zustimmung zur Migration anschauen – dann wäre die Annahme, dass die Menschen früher eine einheitlichere Einstellung zur Frage hatten als heute. Das konnten wir aber nicht nachweisen. Die meisten Menschen positionieren sich nach wie vor mittig.

Warum wird die Debatte um die polarisierte Gesellschaft dann so stark geführt?
Weil die Debatte darum Wahlen beeinflusst. Wir wissen schon lange, dass 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aufweisen. Früher ist diese Gruppe aber kaum aufgefallen, weil sie in den etablierten Volksparteien eingehegt und pazifiziert wurde. Mit dem Aufkommen der rechtspopulistischen Parteien hat sich das geändert. Diese Menschen springen auf das Framing von AfD & Co. an. Je mehr darüber geredet wird, umso besser werden sie aktiviert. Dazu kommen noch klassische Protestwähler, die von den zahlreichen Krisen ermüdet sind.

Ist nicht gerade die letzte Gruppe das viel größere Pulverfass – die klassischen Protestwähler?
Ja, tatsächlich sehen wir hier eine enorme Unzufriedenheit. 40 Prozent der Menschen fühlen sich vom sozialen Wandel abgehängt. Das sind politisch eher konservative Gruppen – sozial gesehen eher jene mit geringerer Bildung und kleineren Einkommen. 

Selbst unter Konservativen herrschte doch lange das Dogma: Alles muss sich verändern, damit alles so bleibt, wie es ist. Warum ist der Frust denn gerade hier so groß?
Weil das Transformationsversprechen mit geringeren Ressourcen abnimmt. Mit hohem Humankapital, Sprach- und interkulturellen Kompetenzen bieten Globalisierung und Transformation großartige Chancen. Wenn ich all das aber nicht habe, kann ich meine Fähigkeiten auch schlechter anpassen. Es ist also kein Mythos, dass diese Gruppen durch entgrenzte Weltmärkte mehr Druck verspüren. Das ist anstrengend und ermüdet irgendwann. Das erklärt aber in Teilen den Erfolg der Populisten. Die sagen nämlich, dass sich die Welt verändern muss und nicht die Menschen. Mich wundert also nicht, dass das in diesen Gruppen verfängt.

Das klingt nach dem zwangsläufigen Ende von Sachpolitik, wenn man diese Gruppen nur noch durch einfache Lösungen abholen kann.
Ja, das ist auch eine These von uns. Die Parteiloyalität der Wählerinnen und Wähler nimmt seit Jahren ab. Die Menschen sind keine Stammwähler mehr, sondern bewegen sich ausgehend von der politischen Mitte hin und her. Wenn die Leute aber keine starken ideologischen Überzeugungen mehr haben, müssen sich die Parteien etwas einfallen lassen. Die Lösung heißt dann häufig Affektpolitik – also eine Politik der Gefühle, die stark emotionalisiert und personalisiert. Wo Sachfragen ein Stück weit in den Hintergrund rücken. Die AfD ist mit ihrem zentralen Motiv "Ressentiments" hier sehr erfolgreich, während die anderen Parteien dem kaum etwas entgegensetzen können. Das rechtsextreme Treffen, über das Correctiv zuletzt berichtet hat, scheint aber ein Triggerpunkt für viele gewesen zu sein. Eine Art rote Linie, die es für sie zu verteidigen gilt.

Aber kann Affektpolitik langfristig erfolgreich sein? Spätestens, wenn eine Partei Regierungsverantwortung hat, stößt sie doch auf praktische Hürden.
Das würde ich auch denken. Affektpolitik setzt auf Emotionen, die ähnlich wie Verliebtsein über die Zeit abnehmen können. Auch da kommt irgendwann der Alltag. Wobei, hier muss man abstufen: Ressentiments sind ein relativ stabiles Gefühl. Wenn sich eine bestimmte Art von Groll gegen jemanden oder etwas habitualisiert, dann kann man sich eigentlich über alles und jeden Tag aufregen. Hier wird das, was wir im Buch "Triggerpunkte" nennen, schneller gereizt.

Was sind denn solche Triggerpunkte?
Triggerpunkte sind Sollbruchstellen im öffentlichen Diskurs, wo häufig tieferliegende Gefühle, moralische Dispositionen oder Gerechtigkeitsüberzeugungen berührt werden. Das sind Punkte, bei denen Menschen reaktiver und intensiver reagieren als bei anderen, über die sie sich problemlos sachlich austauschen könnten.

Zum Beispiel?
Es gibt eine erstaunlich große Zustimmung zum Klimaschutz. Wenn es dann aber um den eigenen Heizungskeller geht, wird das als übergriffig vom Staat empfunden. Ein zweites Beispiel sind Homosexualität und Transpersonen. So gut wie keiner hat etwas dagegen, aber reagiert auf bestimmte Forderungen dann doch empfindlich. Wenn also das Freibad für zwei Stunden für Transmenschen blockiert werden soll, werden Gerechtigkeitsgefühle aktiviert. Dieses Gefühl von Ungerechtigkeit ist ein Grundmotiv für Triggerpunkte.

Es darf also nicht zu konkret werden.
Ja, ganz genau. Viele vermuten Sonderrechte oder Privilegien, die nur einer sehr kleinen Gruppe zukommen. Das ist wie im Wartezimmer, wenn jemand aufgerufen wird, der später hineingekommen ist. Da wird unser Gerechtigkeitsempfinden aktiviert, und die Logik setzt aus.

In Ihrem Buch beschreiben Sie an dieser Stelle einen Wandel. Sie sagen, dass die Verteilungskämpfe, also die Frage der Gerechtigkeit, heute eher horizontal als vertikal beantwortet wird. Während früher gegen "die da oben" geschossen wurde, sind es heute Bürgergeldempfänger und Geflüchtete. Woran liegt das?
Heutzutage gibt es zwar noch Klassen, aber die eigene soziale Situation wird nur ganz selten klassenförmig interpretiert. Das heißt, die Leute klagen zwar über Ungleichheit – 80 Prozent finden die Vermögensverteilung ungerecht – aber daraus folgt keine politische Mobilisierung. 

Warum nicht?
Weil der Leistungsgedanke, oder präziser: die Meritokratie, inzwischen in allen Klassen ein zentrales Leitprinzip ist. Die Vorstellung, dass Leistung, Bildung und produktive Tätigkeit belohnt werden sollten. Diese Vorstellung war in den 1970ern vor allem in der oberen Einkommensschicht verbreitet. Inzwischen ist das interessanterweise eher umgekehrt. Diejenigen, die diesem Prinzip am stärksten zustimmen, sind einkommensschwache Menschen. Und das erklärt auch, warum die Erhöhung des Bürgergelds in dieser Gruppe besonders stark kritisiert wird.

War das eine erfolgreiche liberale Kampagne, oder was steckt hinter dieser Entwicklung?
Darüber kann ich nur spekulieren. Klar ist aber, dass die klassenmäßigen Organisationsformen, sprich die Gewerkschaften, schwächer geworden sind. Dazu kommt ein ganz allgemeiner Individualisierungsprozess. Und drittens mag auch die angesprochene neoliberale Leistungsideologie eine Rolle spielen.

Mit all diesem Wissen: Was können politische Partien machen, um diese Triggerpunkte gezielt für sich zu nutzen?
Die Parteien scannen schon permanent Triggerpunkte im öffentlichen Diskurs ab, um zu schauen, was sie bewirtschaften können. 

…man denke nur an CDU-Chef Friedrich Merz und den Zahnarztbesuch…
Ja. Allgemein lassen sich Triggerpunkte auf der rechten Seite leichter aktivieren als auf der linken Seite. Auch die linken Bewegungen wollen eine Politik der Emotionen durchsetzen, aber es gelingt ihnen nicht, weil sich viele gesellschaftliche Ungerechtigkeiten durch die Meritokratie nicht skandalisieren lassen. Die Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA war dort vielleicht mal eine Ausnahme. Aber es braucht offenbar solche Initialereignisse und Chiffren, an denen sich so etwas entzünden kann.

Könnte man auch sagen, dass es uns zu gut geht für einen erfolgreichen Protest von links?
Ja, vielleicht. Vielleicht aber auch, dass soziale Konflikte einfach anders ausgetragen werden. 

Wie meinen Sie das?
Denken Sie an die Bauernkonflikte hier in Berlin. Früher wären die Landwirte mit ihren Treckern vielleicht zunächst vor die großen Molkereien und andere Monopolabnehmer gezogen. Das wäre schließlich der logische Schritt. Stattdessen wird der Staat zentraler Adressat für eine ganze Menge an Unzufriedenheit und sozialen wie ökonomischen Forderungen. Mittelfristig wird das zu einer Überforderung staatlicher Kapazitäten führen, weil der Staat leider keine autonome Quelle von Reichtumsproduktion ist.

Sollte die Bundesregierung also häufiger weghören, statt ihr Ohr auf die Straße zu legen?
Nein, aber man muss über die Gestaltungsformen von Konflikten nachdenken. Es wird ja jetzt versucht, den Bauernprotest weg von der Straße und rein ins Ministerium oder Bundeskanzleramt zu verlagern. Auf der Straße bleiben Konflikte unproduktiv. Außerdem gibt es Trittbrettfahrer, die nicht am Konflikt selbst, sondern am Hochfahren des Konflikts interessiert sind. Ist der Protest erst einmal von der Straße, lässt sich über legitime Kritik diskutieren, wie im Fall der Landwirtschaft zum Beispiel bei der Regulierung. 

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