Sind die Mentoren meines Lebens : Kerstin ist Mutter von 12 Pflegekindern

10.03.2020 15:32

Kerstin Held nimmt seit vielen Jahren pflegebedürftige Kinder in ihre „Heldenfamilie“ auf, zehn von ihren zwölf Pflegekindern leiden unter einer schweren Behinderung. Über ihre Erfahrungen mit Kindern, die sonst keine Chance hätten, hat sie jetzt ein Buch geschrieben.

Kerstin, du hast in den vergangenen Jahren 12 Pflegekinder aufgenommen, wovon zehn schwerst behindert waren. Kannst du etwas über die Hintergründe dieser Kinder erzählen?

Kerstin: Mein erster Pflegesohn war ein Kind aus dem Kinderheim, in dem ich mein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht habe. Sascha ist schwerstmehrfach beeinträchtigt und heute 33 Jahre alt. Er wohnt in einem Wohnheim für Menschen mit Intensivpflege. 

Seine kleine Schwester Maike war viel bei uns und wurde wenig später ebenfalls zu einem Heldenkind. Heute ist Maike 29 Jahre alt, Ergotherapeutin und meine Adoptivtochter.

Spannend, aber gerade keine Zeit?

Später kam Paul im Alter von fünf Jahren hinzu. Paul war mein erstes Kind mit dem sogenannten Fetalen Alkoholsyndrom. Paul war zuvor in einer Pflegefamilie, in der er zu seiner Behinderung schwere Misshandlung erfahren musste. Er brachte also zu seiner Behinderung auch eine schwere psychische Komponente mit, die uns sehr forderte. So lernten wir mit Traumata und sogenannten Triggern umzugehen.

In dem Haus, in dem wir lebten, gab es ein Mädchen. Sie war die Tochter einer recht schwierigen Mutter und wohnte in der dritten Etage. Jana war viel bei uns und lernte die bunte Welt der Kinder mit Behinderungen kennen und fand Gefallen und ein wenig Zuflucht in der Heldenfamilie. Sie wurde als junge Erwachsene ebenfalls ein Teil der Helden und konnte von mir gut in ihr eigenes Leben entlassen werden. Heute ist sie Heilerziehungspflegerin, 30 Jahre alt und wohnt in der Nähe.

Paul musste die Familie in eine besondere Wohngruppe für Menschen mit sehr speziellem Verhalten im Alter von fast 18 Jahren verlassen und ist nun mit 24 Jahren ein akzeptierter Mitbewohner dieser Wohngruppe.

Im Jahr 2005 kam mein Baby in die Familie. Cora war ein Frühchen einer minderjährigen Mutter, die u.a. synthetische Drogen konsumierte. Die Entwicklung dieses kleinen Mädchens war unklar. Cora ist heute 15 Jahre alt, hat einen frühkindlichen Autismus, eine Tetraspastik und Epilepsie. Sie liebt Livekonzerte und Musicals. Reiten ist ihre große Leidenschaft.

Dann veränderte sich dein privates Leben…

Kerstin: Ja, meine Ehe ging auseinander und ich zog mit meiner Lebensgefährtin zusammen. Sie brachte eine Pflegetochter mit in die Beziehung.

Wir nahmen dann gemeinsam die kleine Lotta auf, von der wir wussten, dass dieses Mädchen sterben wird. Sie hatte sich als Frühchen auf der Intensivstation einen multiresistenten Keim eingefangen. Das Gehirn hatte großen Schaden genommen.

Lotta war neun Monate in meiner Obhut mit einem Pflegedienst als Hilfe. Sie starb zu Hause in meinem Arm, so wie wir es uns für das kleine Mädchen gewünscht haben. Nach Lotta wusste ich, dass sogenannte Palliativkinder, also Kinder mit verkürzter Lebenserwartung, auch ein zu Hause brauchen und dass ich das kann.

So fand der kleine Tim seinen Weg zu den Helden. Er war sieben Monate alt, als er zu mir kam. Er hatte eine schwere Behinderung durch Röteln in der Schwangerschaft. Tim starb im Alter von eineinhalb Jahren an der Grippe innerhalb von 48 Stunden.

Richard kam mit Alkohol im Blut in einem Bordell zur Welt

Wenig später wurde der kleine Richard zu einem Heldenkind. Auch er war sieben Monate lang allein in der Klink. Er kam mit hohem Blutalkohol in einer Badewanne in einem Bordell zur Welt. Als ich ihn zu mir nahm, sagte der Arzt: „Über den Kindergarten müssen Sie sich keine Gedanken machen. Das wird er nicht schaffen!“. Mein kleiner Richard ist heute sieben Jahre alt und kommt in die Schule.

Als Paul in das Wohnheim kam, dachte ich, es sei Platz für ein großes Kind, was noch eine Chance in einer Familie verdient hat. So kam Julia in die Familie, die zuvor neun Jahre in einer Klinik aufgewachsen ist.

Sie hat das sogenannte Undine-Syndrom und muss an die Beatmungsmaschine, wenn sie schläft. Der Atemreflex setzt aus. Nach fast einem Jahr stellten wir jedoch fest, dass Julia zwar eine Menge vom „normalen“ Leben lernen kann, aber nicht in einer Familie. Sie hatte zu lange alle acht Stunden einen Bezugswechsel. Eine Mama konnte dieses Mädchen nicht ertragen, auch wenn ich es mir so sehr für sie gewünscht habe. Sie lebt heute in einer Mädchenwohngemeinschaft und ist glücklich.

Erik war erst vier Monate alt und lag allein in einer neurologischen Rehaklinik, die Mutter hatte keinen Kontakt zu ihm gewollt. Er hatte einen sehr schweren Start, heute ist er fast sechs Jahre alt und ein echter Heldenwirbel. Zusätzlich steht die Diagnose Fetales Alkoholsyndrom seit einiger Zeit fest.

Und dann gibt es noch den kleinen Jonathan. Seine Bauchmama hat ihn bewusst in Obhut. Jonathan musste nach einem Herz-Kreislauf Stillstand sehr lange reanimiert werden, wodurch er einen schweren Hirnschaden erlitten hat. Seine sehr junge Mutter fühlte sich überfordert.

Das sind meine 12 Kinder mit unterschiedlichster Geschichte und verschiedensten Anforderungen an das Leben. 

Es gibt viele Menschen, die gerne Kinder in Pflege aufnehmen möchten – die wenigsten entschieden sich aber für behinderte Kinder. Warum bist du diesen Weg gegangen?

Kerstin: Ich habe mein erstes Pflegekind eher unbewusst aufgenommen. Er war der kleine Junge, den ich im Kinderheim damals versorgte. Jahre später haben mein Mann und ich Sascha ganz blauäugig zu uns genommen. Wir hatten keine Ahnung, was ein Pflegekind ist, geschweige denn, dass es keine Rechtsprechung für Kinder mit Behinderung in Pflegefamilien gibt.

Die Behinderung an sich ist für mich kein Problem, da ich mit einer schwerbehinderten und pflegebedürftigen Schwester groß geworden bin.

Kostet Mühe, aber keine Überwindung

Gab es zu Anfang auch Kommentare à la Warum tust du dir das dann?“ von außen?

Kerstin: Oh ja, Unverständnis gibt es bis heute. Für mich sind vier Rollstuhlräder neben mir das Normalste der Welt. Mich kostet es Mühe, aber keine Überwindung. Vielleicht liegt da der grundlegende Unterschied zu denen, die diese Erfahrungen und Selbstverständlichkeit nicht mitbringen können.

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