Sandra Düpjan erforscht seit 15 Jahren Schweine – und weiß, was in Mastbetrieben falsch läuft

16.01.2020 14:29

Schweine haben es nicht leicht im Leben. Der Ruf als stinkende Drecksau eilt ihnen voraus. Als Nutztiere geboren, von kleinauf gemästet und meistens eingepfercht gehalten, hat ihr Leben offenbar nur einen Sinn: gegessen zu werden. Der Durchschnittsdeutsche liebt Schwein. So sehr, dass er jedes Jahr 30 bis 36 Kilo davon verspeist. 60 Millionen Schweine landen jährlich auf der Schlachtbank, 13,5 Millionen im Müll, weil sie zu krank oder verletzt sind, um geschlachtet und gegessen zu werden. 

Sandra Düpjan untersucht seit 15 Jahren das Verhalten von Schweinen am Institut für Nutzerbiologie in Dummerstorf in Mecklenburg-Vorpommern und ist überzeugt: Kaum ein anderes Tier wird derart missverstanden und unterschätzt wie das Schwein. Im Interview mit dem stern erzählt sie, warum die Tiere den Menschen viel ähnlicher sind als gedacht, warum wir unseren Fleischkonsum gründlich überdenken sollten – und Schweine endlich artgerecht gehalten werden müssen.

Frau Düpjan, was halten Sie von dem Satz: Die Katze blickt auf uns herab, der Hund schaut zu uns auf, das Schwein begegnet uns auf Augenhöhe?

Ich glaube, dieser Satz ist wahr. Ich habe schon bemerkt, dass mich meine Schweine ehrenhalber als Schwein anerkennen. 

Ehrenhalber?

Ja, weil ich ständig da bin und auch so rieche wie sie. 

Oh. Was sagt Ihr Partner dazu? 

Schweine stinken ja nicht. Das ist ein Vorurteil, das ich am Anfang auch hatte. Schweine sind aber weder dreckig noch stinken sie. Sie sind sogar sehr saubere Tiere. Sie suhlen sich im Schlamm, um sich abzukühlen, weil sie nicht schwitzen können und um Körperpflege zu betreiben.  

Der Satz "Ich schwitze wie ein Schwein" ist also Quatsch? 

Ja, völliger Quatsch. Ein Running-Gag, den wir Schweineverhaltensforscher uns untereinander erzählen. Und was meinen Mann betrifft: Er ist Lehrer und stellt immer wieder fest, dass meine Schweine einem Siebtklässler so manches voraus haben. Man geht sogar davon aus, dass Schweine noch mehr Kommandos als Hunde lernen können. 

Trotzdem isst der Durchschnittsdeutsche im Jahr etwa 36 Kilo Schwein. 

Ja, aus teils sehr schlechten Haltebedingungen. Die Verbraucher informieren sich nicht. Sie wollen gar nicht wissen, wo ihr Fleisch herkommt, geschweige denn, wie genau ein Schwein geschlachtet wird. Und so wissen sie vieles gar nicht, etwa, dass viele Schweine vor dem Schlachten nicht einmal betäubt werden. 

Aber Schweine werden doch gewöhnlich vor dem Schlachten betäubt?  

Bei einer Massenschlachtung bleiben den Mitarbeitern nur wenige Sekunden für jedes Tier. Eine Betäubung funktioniert aber nicht immer beim ersten Mal. Das habe ich selbst miterlebt, als ich bei einer Schlachtung dabei war. Wir mussten die Schweine dann nachbetäuben. Das ist in der kurzen Zeitspanne an den meisten anderen Schlachthöfen aber nicht immer möglich.

Wie läuft eine Schlachtung genau ab? 

Das Schwein kommt auf den Viehtransport, dann werden sie nach einer Wartezeit am Schlachthof erst betäubt, und dann die Blutgefäße am Hals durchtrennt und sie sterben durch Ausbluten. Schon während des Transports zum Schlachthof befinden sich die Tiere in einer extremen Stresssituation. Sie werden aus ihrer gewohnten Umwelt genommen und transportiert, was sie nicht kennen. Dann treffen sie auch noch auf fremde Tiere und nehmen fremde Gerüche wahr. Den Geruch von Blut wird jedes Schwein erkennen. Auch die Wartezeit bis zur Schlachtung ist für die Schweine beängstigend, weil sie in Buchten mit ihnen unbekannten Tieren sitzen.

Was soll der Durchschnittsdeutsche machen, der weiter seine Tonnen Schwein essen, aber keine Tiere quälen will und nicht unglaublich viel Geld zur Verfügung hat? Gibt es überhaupt ein Argument dafür, Schwein zu essen? 

Man könnte argumentieren, wir seien biologisch darauf ausgelegt, Fleisch zu essen. Es gibt keinen Veganer, der keinen Vitamin-B12-Ersatz braucht. Trotzdem müssen sich die Verbraucher klar machen, dass sie nicht informiert sind. Einige denken, es genüge, Bio-Fleisch zu kaufen. Aber Bio bedeutet nicht primär Tierschutz. Auch hier können Verbraucher nicht sicher sein, wie die Tiere geschlachtet wurden. Bio bedeutet nur, dass die Tiere mehr Auslauf und Platz hatten. Besser ist es, sich an Tierwohllabel zu halten, wenn man Tierwohl kaufen möchte. Verbraucher machen sich viel zu wenige Gedanken über das Fleisch, das sie essen. Ich vergleiche das immer gerne mit dem Kauf eines neues Smartphones. Da informieren wir uns wochenlang, welches das beste ist und ob sich der Preis lohnt. Wie wenig sich die meisten von uns hingegen über das Fleisch informieren, das sie essen, ist paradox.

Wie kann es sein, dass auch gebildete Menschen oft sehr schlecht über Fleisch informiert sind? 

Das versuche ich seit Jahren herauszufinden. Über bestimmte Sachen möchte die Branche natürlich auch nicht gern informieren, wie etwa darüber, dass männlichen Ferkeln bisher ohne Betäubung die Samenstränge durchtrennt und die Hoden entfernt werden, damit sich der Ebergeruch nicht auf das Fleisch überträgt. Gäbe es jetzt keine Gesetzesänderung, wüssten das wahrscheinlich noch immer viele nicht. Als mein Chef einen Versuch mit betäubungslos kastrierten Ferkeln gemacht hat, hat er Mails bekommen, wie wir das denn machen könnten. Wir mussten erst mal darauf hinweisen, dass das die gängige Praxis ist. Es gibt viele Dinge in der Tierhaltung, die dem Großteil der Bevölkerung nicht klar sind. Es wird dann gesagt, Alternativen seien vom Verbraucher nicht gewünscht. Aber wenn man den Verbraucher vernünftig informieren würde, würde sich wohl niemand dafür entscheiden, Tiere unnütz zu quälen.

Und doch kaufen viele, die sich auch Besseres leisten könnten, billiges Discounter-Fleisch.

Natürlich ist es auch ein psychologischer Selbstschutz, dass sich einige nicht genauer über dieses Fleisch informieren. Ich kann nachvollziehen, dass man nicht bei jeder Mahlzeit ein schlechtes Gewissen haben und darüber nachdenken möchte, dass das auf dem Teller mal ein Tier mit einer gewissen Intelligenz und einem Gefühlsleben war. 

Essen Sie noch Schwein? 

Nein. Das habe ich aber auch vor meiner Arbeit schon nicht getan. Wer sich wirklich mit den Tieren beschäftigt, dem ist es nicht mehr möglich, Schwein zu essen. 

Wie würde eine wirklich artgerechte Haltung von Schweinen aussehen? 

In der freien Natur würden Schweine ihre Umwelt strukturieren, eigentlich ganz ähnlich wie Menschen: Es würde eine Futterecke geben, einen Ruhebereich und einen Bereich zum Spielen. In den Mastbetrieben haben die Schweine gar keinen Platz dafür. Wenn ein Schwein in einer kleinen Bucht aufwächst, ist es das gewöhnt und man gewinnt nicht unbedingt den Eindruck, dass es ihm schlecht geht. Doch wenn man dem selben Schwein Auslauf lässt, beginnt es auf einmal, neue Verhaltensweisen zu zeigen, Laufspiele zu machen und mit dem Schwanz zu wedeln. 

Wieso wedeln Schweine in Mastbetrieben nicht mit dem Schwanz?

Da die Schweine dort so eingepfercht werden, beginnen sie unter anderem, sich gegenseitig in die Ringelschwänze zu beißen. Deshalb hat man angefangen, den Schweinen schon in ihren ersten Lebenstagen die Schwänze zu kürzen. Erst nachdem bei uns in unserer Experimentalanlage Schweine wieder artgerechter gehalten und ihre Schwänze nicht gekürzt wurden, bemerkte man: Da stehen Schweine vor dem Futtertrog und wedeln auf einmal mit dem Schwanz. Der genaue Grund wird gerade noch erforscht. Studien zeigen, dass sogar die Richtung, in die sich der Ringelschwanz des Schweins ringelt, etwas aussagt, ähnlich wie bei Rechts- und Linkshändern bei Menschen. Die Ergebnisse zeigten auch, dass sich die Schweine anders verhielten, je nachdem ob sich der Ringel nach rechts oder links drehte. 

Was war das Erstaunlichste, das Sie über Schweine gelernt haben? 

Ganz viel. Ich erkenne zum Beispiel am Verhalten der Schweine, welche Erwartungshaltung sie haben. Für einen Versuch mit den Schweinen habe ich entweder in die linke oder die rechte Ecke des Versuchsraums eine Kiste mit einer Klappe dran gestellt. In der Kiste habe ich Apfelmus versteckt, doch nur in einer der Ecken kamen die Tiere auch dran. Denn sonst habe ich ein Gitter über dem Apfelmus befestigt und sie auch noch bestraft, indem ich sie mit einer Plastiktüte erschreckt habe, wenn sie die Klappe geöffnet hatten. Die Kiste steht also entweder rechts oder links, und die Schweine müssen sich entscheiden, ob sie hingehen und die Klappe aufmachen oder nicht. Sie lernen schnell, dass sie das in der belohnten Ecke machen sollten, in der bestraften aber nicht. Im Test stand die Kiste dann zwischen den bekannten Positionen. Hier mussten die Tiere raten, ob sich wohl eine Belohnung darin verbirgt und sie die Klappe öffnen sollten, oder ob eine Bestrafung zu erwarten ist und die Klappe lieber zu bleiben sollte. Schweine, die pharmakologisch in einen depressiven Zustand versetzt wurden, zeigten sich deutlich pessimistischer und gingen oft gar nicht erst zu einer Kiste. 

Heißt das, Schweine können Depressionen bekommen?

Das hat nie jemand genau analysiert, aber ich könnte es mir vorstellen. Denn die Gehirnphysiologie des Schweins ist ganz ähnlich wie die des Menschen. Deshalb werden Schweine auch als Labortiere immer beliebter. 

Was raten Sie Menschen? Sollten wir gar kein Schweinefleisch mehr essen? 

Wer wirklich gutes Fleisch essen will, kommt letztens Endes nicht drum herum, sich zu informieren und ein Label zu finden, das zu ihm passt. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir an der Supermarktkasse mitentscheiden, wie Produkte hergestellt werden. Am Ende entscheidet die Gesellschaft. Wenn die Mehrheit sagt, ich möchte lieber viel und billig Fleisch kaufen, als dass es den Tieren besser geht, dann müssen wir das vielleicht auch hinnehmen. Ich hoffe aber, dass sich sich eine Mehrheit für mehr Tierschutz finden wird. 

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