Kindheitsforscher warnt: Hört auf, eure Kinder in Kitas zu geben!

21.02.2020 14:33

Michael Hüter ist Kindheitsforscher und Autor. Seine These: Nie ging es Kindern emotional so schlecht wie heute. Kitas und Ganztagsschulen für Kinder jeden Alters hält Hüter für den diametral falschen Weg.

„Geschichte ist wichtig. Wenn Sie von Geschichte keine Ahnung haben, dann wäre das, als wären Sie gestern geboren. Und wenn Sie gestern geboren sind, dann kann Ihnen jeder oben, der eine Machtposition hat, alles Mögliche erzählen. Und Sie sind nicht in der Lage, es nachzuprüfen.“ (Historiker Howard Zinn)

Ich möchte Ihnen heute nicht eine, sondern von einer Geschichte erzählen. Nicht nur als Historiker, sondern vor allem auch als dreifacher Vater weiß ich nur zu gut: Nicht nur Kinder lieben Geschichten, sondern auch Erwachsene.

Die sogenannten Erwachsenen lieben oder erzählen aufs Neue die Geschichten von Krieg, Unterwerfung, Leid und Not, von Konkurrenz statt Kooperation, die von Egoismus und Ausbeutung statt die von der Verbundenheit.

Über den Autor

Michael Hüter, Jahrgang 1968, ist Kindheitsforscher und Autor. Der Österreicher studierte Geschichte, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Salzburg und schreibt heute über Erziehung und den richtigen Umgang von Eltern und Kindern.

Gegenwärtig lieben die meisten Erwachsenen die Erzählung von Haben statt Sein, die des Wachstums ohne Ende und neuerdings wieder die von Links und Rechts und die der Erziehung statt Beziehung. Kinder hingegen begeistern sich auch heute noch herzlich wenig für diese grausamem Geschichten und Erzählungen der Erwachsenen.

Evolution durch Liebe

Unter Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen herrscht weltweit seit Jahren schon folgender Konsens: Nahezu jedes Kind dieser Welt, 98 Prozent, ob in den Slums von Mumbai oder in einem Vorort von Halle an der Saale, kommen hoch begabt zur Welt. Sogenannte Erbkrankheiten, die auf einem Gendefekt beruhen, sind so selten (sie betreffen 0,1 Prozent der Kinder), dass wir sie als marginal bezeichnen können.

Spannend, aber gerade keine Zeit?

Jedes Kind dieser Welt kommt mit der Fähigkeit zu Empathie, sozialem Verhalten und einer fast endlosen Lern- und Lebenslust zur Welt. Ich habe im Moment das Gefühl, wir leben wieder am Beginn des 16. Jahrhunderts: Die Erde ist wieder eine Scheibe. Wenn wir die wissenschaftlichen Forschungserkenntnisse aus Neurobiologie, Psychologie, Anthropologie und Soziologie – aus der gesamten Kindheitsforschung, die wir derzeit haben, berücksichtigen und ernst nehmen würden, müsste jede Krippe sofort geschlossen werden und nebenbei mit Sicherheit 60 bis 70 Prozent unserer Schulen.

Aber die Geschichte, auf die ich Sie heute kurz aufmerksam machen möchte, ist nicht nur wahr, sondern sie ist mit Sicherheit die berührendste, die der Sapiens nicht nur erfand, sondern die er über zehntausende Jahre auch lebte, also immer wieder aufs Neue weitererzählte. Denn es kann nichts gelebt werden, was nicht beständig weitererzählt wird. Sie trägt den Titel: Evolution durch Liebe.

Die Liebesbedürftigkeit des Sapiens ist unermesslich groß

Es ist die vergessene, verdrängte und oft unterdrückte Geschichte der familialen Sozialisation, der elterlichen Liebe. Sie ist so tief, tief eingeprägt im evolutionären Programm des Sapiens, dass alle Babys und Kinder auch heute noch und weltweit zuerst einmal und nur diese eine Geschichte lieben und mit jeder Faser ihres Körpers danach verlangen. Die Liebesbedürftigkeit des kleinen Sapiens ist unermesslich groß. Wird sie beim Menschenkind nicht gestillt, bekommen wir – was heute mehr die Regel denn die Ausnahme ist – einen ein Leben lang bedürftigen Menschen.

Mittlerweile profitieren nicht nur riesige Industriezweige vom bedürftigen Mensch, sondern auch Totalitarismus, Krieg, gesellschaftliche Polarisierung und generell alle Formen von Missachtung und Zerstörung wären ohne den frühen (auch elterlichen) Liebesmangel unmöglich. Wer nicht früh Liebe erfahren und somit lieben gelernt hat, der wird später auch nichts lieben und bewahren.

Wir müssen die hohe Entfremdung von unserer Natur beenden

Auch die – und um nur ein Beispiel der vielen krankhaften Symptome unserer Zeit zu nennen – maßlose Zerstörung unserer natürlichen Lebensräume lässt sich auf diesen frühen und seit langem zur Norm gewordenen frühkindlichen Liebesmangel zurückführen. Wir brauchen nicht das Klima oder die Natur retten, sondern lediglich die hohe Entfremdung von unserer eigenen Natur beenden.

Das menschliche Klima, in dem der kleine Sapiens in 99 Prozent der bisherigen Menschheitsgeschichte hineingeboren wurde, war das der Achtsamkeit vor allem Lebendigen. Des Stillens – hier im doppelten Sinn des Wortes – von Bedürfnissen.

Doch wie ist es möglich, dass wir diese Geschichte der elterlichen Liebe, das im Übrigen größte Kontinuum der Menschheitsgeschichte, die Evolution durch Liebe, unseren Kindern nicht mehr erzählen und vorleben, sondern sie immer und immer wieder mit neuen Erzählungen unterbrechen und sogar bekämpfen?

Der emotionale Schmerz eines Kleinkindes wird nicht geringer, wenn es mit dem SUV zur Krippe gebracht wird

USA 1974: Der amerikanische Psychoanalytiker Lloyd DeMause, Pionier und Mitbegründer der sogenannten Psychohistorie, eröffnete sein 1974 erschienenes Buch The History of Childhood mit folgendem und alsbald viel zitiertem Satz: „Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte der Kindheit zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.“

Nichts, nichts hat sich in den letzten Jahrzehnten tiefer, vor allem in dem akademisch gebildeten Milieu der Mittelschicht, dem Bürgertum, aber auch tief hinein in Bildung, Universität und Forschung und noch viel entscheidender, auch in die Politik der USA, vielen Teilen Europas und Asiens ins kollektive Bewusstsein eingegraben, wie diese These, die, verkürzt, zu folgender Erzählung wurde: Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum und je weiter wir in dieser Geschichte zurück blicken, desto größer dieser Alptraum.

Noch vereinfachter: Früher erging es Kindern so schlecht. Das ist schlicht der große Leitsatz, den mittlerweile zwei Generationen tief inhaliert haben und ihn letztlich zu einem Glaubensgrundsatz gemacht haben. Das wirklich Fatale an dieser Erzählung ist und Sie ahnen es vielleicht schon: Wenn es Kindern früher so schlecht erging, dann muss es ihnen doch heute so gut ergehen wie noch nie.

Doch das Ganze ist nicht nur schwarz/weiß, sondern ein gewaltiger historischer und gesellschaftlicher Irrtum. Diese ständig neu erzählte und teils propagandierte westliche These – „Früher erging es Kindern so schlecht“ – dient vor allem auch immer wieder dazu, die gegenwärtigen Misshandlungen, Unterwerfungen und Machtmissbräuche an Kindern zu rechtfertigen. Der emotionale Schmerz eines Babys oder Kleinkindes wird nicht dadurch geringer, wenn es mit einem SUV in die Krippe gebracht wird.

Die entscheidende Frage ist wie bei so vielem in der Geschichte des Sapiens, wo schauen wir hin und vor allem wie weit schauen wir zurück.

Noch nie – außerhalb von Kriegszeiten – ging es Kindern seelisch und emotional so schlecht wie heute

Lloyd De Mause war ein Kind seiner Zeit. Er konnte nicht sehen und schon gar nicht wissen, alleine von der ihm damals zur Verfügung stehenden Quellenlage, was sich in den hunderttausend Jahren vor Sesshaftwerdung des Menschen, vor der Domestizierung von Getreide, Tier und vor allem letztlich des Menschen selbst, sich alles auch an Liebe ereignete. Lloyd DeMause wurde gegen Ende einer Epoche unzähliger Kriege der letzten Jahrtausende, im Besonderen der letzten Jahrhunderte geboren. Er war ein traumatisiertes Kind in einer traumatisierten Gesellschaft.

Durch die internationale Trauma-Forschung wissen wir heute, dass der traumatisierte Mensch – wenn seines Traumas nicht vollständig bewusst und aufgearbeitet – seine Traumata immer und immer wieder reinszeniert. Das Gleiche gilt für die Gesellschaft als Ganzes. Traumatisierte Gesellschaften und Kulturen reinszenieren beständig ihre Traumata aufs Neue, wenn auch in unterschiedlichsten Erscheinungsformen.

Traumata heilen nicht, noch sind sie vollends therapierbar. Alles was wir tun können, ist, die Ursachen, die zur Traumatisierung des Einzelnen oder einer ganzen Gesellschaft geführt haben, bekämpfen und eine Gesellschaftsordnung schaffen, in der zuallererst das Kind nicht mehr traumatisiert wird. Kind ist Mensch und aus dem Alptraum Kindheit folgt immer der Alptraum Menschheit. Das zeigt die Geschichte wiederholt und das habe ich auch versucht, in meinem Buch Kindheit 6.7 sichtbar zu machen.

Der Alptraum Kindheit liegt nicht 20.000 und nicht 50.000 Jahre zurück. Seit Jahren und zunehmend weltweit findet die größte und kollektive Reinszenierung frühkindlicher Traumatisierung statt. Noch nie in der Geschichte der Menschheit – außerhalb von Kriegszeiten – erging es der großen Mehrheit an Kindern seelisch und emotional – man mag es auch psychisch nennen – so schlecht wie heute.

Jedes zweite Kind in Europa leidet unter chronischer Krankheit

Nur kurz, im Staccato und auszugsweise der gegenwärtige physische und psychische Befund unserer Kinder: Noch nie in der Geschichte war das Risiko so hoch, dass Kinder chronische Krankheiten entwickeln, für die es keine Heilung gibt. Bereits jedes zweite Kind in Europa weist zumindest eine chronische Krankheit auf. Auch sogenannte Erwachsenenkrankheiten wie Krebs sind bei Kindern seit Jahren im Vormarsch. Bereits ein Prozent der Kinder in Deutschland haben Krebs.

Der sexuelle Missbrauch an Kindern nimmt seit Jahren signifikant zu. Babys werden tagelang zu Tode gequält, für 12.000 Schweizer Franken können Sie sich im Internet ein Kind nach Wahl im Alter zwischen ein und zwölf Jahren für den Zweck kaufen, es zu schänden und zu Tode zu quälen. Allein der internationale Markt für Kinderpornographie wird von Experten auf sieben Billionen Dollar geschätzt. Deutschland und Österreich haben seit 20 Jahren konstant eine der höchsten Alkohol- und Drogenkonsumraten weltweit, außerhalb den USA.

Mobbing und alle Formen von Gewalt in Schule, auch Kitas und vor allem in den Social Media nehmen seit etwa zehn Jahren ebenso in rasantem Tempo zu. Manifestiert in Zahlen: 40 bis 60 Prozent der Kinder gehen wieder mit Angst zur Schule, 80 Prozent der Kinder haben nach der Grundschule bereits ein beschädigtes Selbstwertgefühl, jeder zweite Pädagoge und auch Elternteil steht vor dem psychischen Burnout. Hier in Deutschland und auch anderswo.

Die Eltern trennen sich, die Kinder leiden darunter

Seit mindestens 15 Jahren erleben bereits über 50 Prozent aller Kinder bis zum 6. Lebensjahr die Trennung ihrer Eltern. Tendenz steigend. Die elterliche Trennung ist für jedes Kind – zumal in diesem Alter, traumatisierend. Eine Serie von internationalen Studien ergab, dass der Kontaktabbruch zum zweiten Elternteil im Zuge der elterlichen Trennung nachhaltiger schädigt und effektiv krank macht als der Verlust eines Elternteils durch Tod.

Jedes vierte Kind braucht irgendeine Therapie. Psychische Auffälligkeiten, ADHS, Autismus und generell schwere psychische Störungen nehmen in ungeheuerlich rasantem Tempo zu, sodass wir gegenwärtig davon ausgehen können, dass nur noch etwa 15 bis 20 Prozent der Kinder in Psyche und Physe gesund und stabil sind.

Einzelne Kompetenzen, die der Mensch bisher im Zuge seines Heranwachsens von allein erworben hat – das ist etwas, was Wissenschaftler weltweit derzeit am allermeisten alarmiert – werden überhaupt nicht mehr oder nur noch schwach entwickelt. Das betrifft insbesondere motorische Kompetenzen, aber auch kognitive, wie die der Wahrnehmung und andere.

Alle Formen von Sprachverarmung nehmen seit Jahren zu. Vor der industriellen Revolution, Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, vor der Auflösung des Großfamilienverbandes und vor der gewaltigen Ausdehnung der Massenbeschulung und in Wahrheit Massenbetreuung in Schule, Kindergarten und Krippe, war die Analphabetisierungsrate genauso hoch wie heute, bei 15 bis 18 Prozent. In den letzten 200 Jahren wurde der Mensch weder gebildeter, noch kompetenter, noch umsichtiger und schon gar nicht liebender.

Der Weggabe-Modus

Die vollkommene Trennung des Kindes von der Familie, von intimen Gemeinschaften, also von ihm nahestehenden Bezugspersonen sowie die vollkommene Entfernung des Kindes aus der öffentlichen Gemeinschaft, dem realen Leben, ist der größte menschliche und historische Irrtum der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte.

Der amerikanische Psychoanalytiker und Historiker Lloyd De Mause war der erste, und das ist eigentlich sein großer Verdienst, der diesem großen Bruch – eines evolutionären Kontinuums – einen Namen gab: Weggabe-Modus. Es ist auch kein Wunder, dass eine Konsumgesellschaft auf Basis des Weggabe-Modus des Kindes besonders gut gedeiht.

Mit Ganztageskrippen, Ganztages-Kitas und Ganztages-Schulen, weggesperrt vom 1. bis zum 18. Lebensjahr, wird der Mensch nicht gebildeter, nicht kompetenter, und schon gar nicht humaner werden.

Im Gegenteil: Dieser frühe Weggabe-Modus im Zeitraum der eigentlichen Kindheit, die nicht nur historisch betrachtet über 100.000 Jahre bis zum zweiten Zahnen gesehen wurde, also bis zum 6./7. Lebensjahr, ist die Basis für alle Formen von Totalitarismus, Normopathie und vor allem Selbstzerstörung, worüber noch viel zu wenig gesprochen wird.

Es gibt nur eine Konstante in der Geschichte der Menschheit

Kriege führte der Sapiens in den letzten Jahrtausenden, ab dem Zeitpunkt seiner Sesshaftwerdung, bekanntlich zur Genüge. Aber es gibt nichts absolut Vergleichbares in der gesamten Geschichte der Menschheit, als die Faschismen, Totalitarismen und die beiden Weltkriege, die zwischen 1914 und 1975 allein in Europa etwa 100 Millionen Menschen das Leben gekostet haben.

Das alles ist historisch betrachtet vielleicht eine halbe Sekunde zurück. Und wer meint, so etwas wäre nie wieder möglich, dem muss ich als Historiker sage: Es gibt nur eine Konstante in der Geschichte der Menschheit, und die ist, nicht zu sagen, etwas wäre nicht möglich.

Durch die lange Fixierung der Geschichtswissenschaft und Historie vor allem in Europa – auf Militär-, Polit- und Kriegsgeschichte, wurde ein wichtiges und signifikantes Detail der jüngeren Geschichte übersehen: Seit Ausdehnung des Weggabe-Modus auf die ersten 6/7 Lebensjahre, wie auch die Ausdehnung der Erziehung auf diesen Zeitraum frühe Kindheit; seit Auslöschung der Großfamilie und einhundert Jahre später die Aufsplitterung auch noch der Kernfamilie, Mutter und Vater, nehmen unzählige Formen von menschlicher Selbstzerstörung zu, die es in diesem Umfang bisher in der Menschheitsgeschichte nicht gab.

In den letzten 40 Jahren wurde durch den Menschen bereits etwa ein Drittel aller Pflanzen und Tierarten dieses Planeten unwiederbringlich vernichtet. Gleichzeitig hat sich in den letzten 35 Jahren die Weltgeburtenrate halbiert. Damit nicht genug: Seit Ausdehnung der Schulzeit, von den 1980er Jahren an bis heute, Krippe, Ganztageskindergarten und Ganztagesschule (Hort) hat sich die Selbstmordrate in der Adoleszenz vervierfacht.

Seit etwa 10 Jahren sterben weltweit etwa eine Million Menschen durch Suizid. Also vielfach mehr Personen als durch kriegerische Auseinandersetzungen oder Terroranschläge ums Leben kommen.

Fremdbetreuung ist zum nicht mehr hinterfragten Kulturgut geworden

Kurz: Noch nie hatten wir – vor allem in den sogenannten Industrienationen und westlichen Ländern – so wenige Kinder, und von diesen wenigen Kindern sind über 50 Prozent krank und ein erschreckend hoher Teil nimmt sich auch noch das Leben. Kaiserschnitt, Kinder- und Muttermangel und die Fremdbetreuung des Kindes vom 1. bis zum 18. Lebensjahr, 38 Stunden die Woche und das am besten auch noch in den Ferien, sind, so scheint es, zu einem von der Mehrheit nicht mehr hinterfragten Kulturgut geworden.

Die Konsequenz: Die Welt wird immer radikaler, undemokratischer und vor allem empathieloser. Während der Hunger nicht nur nach fossilen Brennstoffen, Strom und Konsumschrott aus China steigt und steigt.

Hunger hieß der 1890 veröffentlichte und weltberühmt gewordene Roman des norwegischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Knut Hamsun. Zur selben Zeit malte der norwegische Maler Edward Munch das weltberühmt gewordene Gemälde Der Schrei. Die beiden höchst unterschiedlichen Künstler Hamsun und Munch wussten um den kollektiven Alptraum Kindheit im 19. Jahrhundert, der zum kollektiven Alptraum Menschheit im 20. Jahrhundert wurde. Kinder und Künstler sind seit jeher die genauesten Seismografen einer Gesellschaft.

Mutter-, Eltern- und Liebesmangel

Der frühkindliche und generell der Mangel an Liebe und Beziehung in der Kindheit ist wieder groß. Der Hunger nach Stillung dieses Mangels ebenso. Erstmals in der Geschichte der Menschheit sterben mehr Menschen, weil sie zu viel essen und nicht, weil sie zu wenig essen. 2010 starben rund drei Millionen Menschen an Fettleibigkeit, zunehmend auch schon Kinder.

Last but not least: Die Schere zwischen Arm und Reich hat weltweit ein historisch noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Was muss eine Gesellschaft in ihrer Kindheit nicht alles ertragen und erduldet haben, dass sie diese großen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten heute ohne nennenswerten Widerstand erduldet.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk schreibt in seinem Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit: „Waren Fortschritt und Reaktion die Leitbegriffe des 19., sind Pfusch und Reparatur die des 21. Jahrhunderts.“ Ich ergänze: Waren Erziehungsdiktatur und Vaterterror die Leitbegriffe des 19., sind Mutter-, Eltern- und Liebesmangel die des 21. Jahrhunderts.

Behutsam und liebevoll mit dem Nachwuchs umgehen

Noch nie in der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit hatten Kinder so wenig Möglichkeit, in Beziehung zu den ihnen von Natur aus emotional nahestehenden Personen aufzuwachsen. Ein historisches Novum, von dem wir nicht einmal ansatzweise vorhersagen können, welche verheerenden Folgen das für Natur, Kultur und Gesellschaft noch weiter mit sich ziehen wird.

Vergessen Sie die großen Seuchen der Menschheitsgeschichte wie Pest, Ruhr, Cholera. Die Auswirkungen des mittlerweile und zunehmend weltweit zur gesellschaftlichen Normopathie erwachsenen Muttermangels werden noch umfassender und verheerender sein als alle Seuchen der Menschheitsgeschichte bisher. Wenn wir wollen, dass sich der gegenwärtige und kollektive Alptraum Kindheit nicht wieder in einen Alptraum Menschheit wandelt, brauchen wir nichts anderes tun, als uns zu erinnern und das täglich weltweit Neu-Geborene einfach in Liebe begleitend wachsen lassen.

Das große Erfolgsgeheimnis des Homo sapiens, warum er sich als einzige Menschform letztlich durchsetzte, lag über 100.000 Jahre – bis zu seiner Sesshaftwerdung – nicht in Krieg, nicht in Konkurrenz, nicht in Egoismus. Sondern das Geheimnis des Sapiens (wie im Übrigen nahezu aller Säugetiere) war, dass er besonders behutsam und liebevoll mit seinem Nachwuchs umging.

Am Anfang war nicht das Wort, sondern zuerst einmal die elterliche Liebe. Die familiale Sozialisation. Das ist das große Erfolgsgeheimnis des Sapiens.

In den letzten Jahrhunderten hat sich der Mensch zweifelsfrei die Erde untertan gemacht. Nun ist der Mensch – zunehmend weltweit – gerade dabei, sich das Kind untertan zu machen. Nochmals: Kind ist Mensch. Alle krankhaften gesellschaftlichen Erscheinungen oben können Sie letztlich auf die Kindheit zurückführen.

Als Historiker muss ich Ihnen leider sagen, dass sich die breite Mehrheit in den etwa letzten 200 Jahren immer, absolut immer geirrt hat! Es wird nie ein richtiges Leben im falschen und es wird nie eine gute Krippe geben.

An alle Sapiens-Eltern: Lassen Sie sich nicht blenden, täuschen und in die Irre führen. Denn, historisches Faktum: Etwa 80 Prozent aller Persönlichkeiten auch der letzten Jahrhunderte, die herausragend Positives für die Menschheit geleistet haben wie Goethe, Humboldt, Marx, Einstein, Gandhi und Co., aber auch der größte Erfinder der Menschheitsgeschichte, Thomas Alva Edison, oder beispielsweise der größte Eisenbahnpionier aller Zeiten, George Stephenson - die Liste ist lang: All diese Persönlichkeiten wurden zuallererst lange familial sozialisiert und vor allem nicht oder nur kurz beschult. Die Mehrheit dieser genannten Personen waren nebenbei keine Trennungskinder.

Der ungarische Wissenschaftsphilosoph Ervin Laszlo hat einmal mahnend und treffend gesagt: „Die Illusion des Getrenntseins ist eine der negativsten Mythen unserer Zeit.“

Vor drei Jahren gab der österreichische Schriftsteller, Poet und diesjährige Literaturnobelpreisträger Peter Handke dem ORF eines seiner seltenen Interviews. Die Journalistin stellte unter anderem folgende Frage: „Es ist ganz viel in diesen Tagen, Wochen, Monaten, von den europäischen Werten die Rede, davon, dass diese verteidigt gehören. Können Sie dieser Debatte etwas abgewinnen?“

Peter Handke antwortete unter anderem: „Ich bin nicht auf dem Laufenden. Ich bin eher auf dem Gehenden. Europäische Werte, das ist doch ein Schmäh? Alle tiefen, feinen, zarten Werte der Menschheit sind überall. Die Werte sind in den Formen der großen Werke. Die Werte sind im Schluchzen eines Kindes. Oder im Hüpfschritt eines Kindes. Das ist für mich Musik. Das ist ein Wert."

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