Halbes Jahr im Amt – so ergeht es Sonneberg mit dem ersten AfD-Landrat Deutschlands

29.01.2024 10:56

Am Sonntag könnte der zweite AfD-Landrat Deutschlands gewählt werden. Um den ersten ist es ruhiger geworden. Untätig geblieben ist Robert Sesselmann in Sonneberg aber nicht. 

Zweieinhalb Monate war der AfD-Politiker Robert Sesselmann Landrat, da regt sich in Sonneberg das erste Mal Widerstand gegen ihn. Keine Demonstration, keine Petition – das nicht. Der Unmut breitete sich hinter den verschlossenen Türen einer nicht-öffentlichen Sitzung im Jugendhilfeausschuss des Sonneberger Kreistags aus. Wie jedes Jahr wollte der Ausschuss an den Bund den Antrag stellen, mit dem Programm "Demokratie leben!" im Kreis Demokratie-Projekte zu fördern. Der Landkreis musste für den Antrag nur bestätigen, dass er selbst auch dieses Jahr wieder 35.000 Euro zuschießen würde, um im Gegenzug eine Viertel Million zu erhalten. Eine Formalität, eigentlich. Aber Sesselmann machte dem Ausschuss einen Strich durch die Rechnung: Das ganze Programm sei zu teuer. Er will den Antrag nicht unterschreiben. 

Seit bald einem halben Jahr ist Sesselmann schon der erste AfD-Landrat Deutschlands. Der kleine Landkreis an den Ausläufern des Thüringer Waldes verwandelte sich nach seiner Wahl im vergangenen Juni einen Sommer lang in ein mahnendes Beispiel. Sesselmann gilt immerhin als treuer Anhänger Björn Höckes, dem Faschisten, der den gesichert rechtsextremen Landesverband der AfD Thüringen anführt. Der stern ging damals in einer Reportage der Frage nach: Wie geht es all jenen Menschen in Sonneberg und Umgebung, die den AfD-Mann nicht gewählt haben? Ein Teil der Medien-Karawane ist nun zurückgekehrt, in den benachbarten Landkreis Saale-Orla, wo an diesem Sonntag in einer Stichwahl ein zweiter AfD-Mann ein Landratsamt erobern könnte. Höchste Zeit, noch einmal in Sonneberg nachzufragen: Wie macht sich Landrat Sesselmann? Was hat die AfD, was haben die Menschen von ihm? 

Sesselmanns verweigerte Unterschrift klingt nach bürokratischem Klein-Klein aus dem Tagesgeschäft eines Kreistages, aber so war es nicht. "Das war für alle Beteiligten ein Schockmoment", sagt Christian Tanzmeier. Er sitzt für die CDU im Sonneberger Kreistag. Mit dem Geld werde das Jugendforum teilfinanziert. Eine Jugendfahrt zur KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Begegnungen zwischen Jugendlichen und Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung. "Dieses Programm war der AfD hier in Sonneberg schon lange ein Dorn im Auge", sagt Tanzmeier. AfD-Kreistagsmitglieder nannten es "Denkbetreuungsverein", daran erinnert die Lokalpresse. Die Mitglieder des Jugendhilfeausschusses gingen auf die Barrikaden und drohten mit einer Sonder-Kreistagssitzung: Sesselmann überschreite seine Kompetenzen, immerhin habe die Legislative demokratisch entschieden, dass man die Projekte weiterhin wolle. Sesselmann musste letztendlich nachgeben. Das Programm läuft weiter. 

AfD will keine Angriffspunkte bieten 

Es geht noch immer die Sonne auf in Sonneberg, der Strom fließt und Polizei sorgt für Ordnung. Man könnte auf den ersten Blick sagen, es hat sich nicht allzu viel verändert in und um die Kreisstadt herum. Weil sogar die Macht eines Landrates natürlich begrenzt ist, einerseits. Andererseits, das wird in Aussagen von Sesselmann und Höcke immer wieder deutlich, haben sie ein gemeinsames Ziel vor Augen: Die AfD zur Volkspartei machen. Schritt Nummer eins: In den Kommunen siegen. Schritt Nummer zwei: Auf dieser Welle in die Landtagswahlen reiten. Und bis dahin den Ball immer schön flach zu halten, auf dass nichts das größere Ziel in Gefahr bringen möge: Regierungsverantwortung für die AfD nach den Thüringer Landtagswahlen.

Am Ortseingang von Sonneberg, in den Werkräumen einer verlassenen Schule, sammeln Uwe Schlammer und seine Partnerin Petra Gundermann noch immer Kleidung, Küchengeräte und Spielzeug für Geflüchtete. Vergangene Woche erst mussten sie über Facebook wieder zu Spenden aufrufen: Winterjacken und Mäntel werden gebraucht, für Kurden aus der Türkei, Geflüchtete aus Nordafrika, die in der Gemeinschaftsunterkunft in Sonneberg leben. Als Sesselmann sein Amt übernommen hatte, da erzählten sie dem stern, sie hätten Sorge, wie lange sie mit ihrem Hilfsverein weiter machen können. Das Gebäude gehört dem Kreis. Ein halbes Jahr später meldet sich Uwe Schlammer am Telefon, Petra Gundermann hört mit. "Es ist nichts Weltbewegendes passiert", sagt er. Der Landrat versuche, keine Angriffspunkte zu bieten. "Aber man darf sich davon nicht täuschen lassen." 

Anfang Januar wird bekannt, dass Mitglieder der AfD bei einem geheimen Treffen die Deportation von Migranten und nicht assimilierten Deutschen geplant haben. Von "Remigration" spricht die Partei schon lange. Auch Landrat Sesselmann. "Wir brauchen eine andere Gesetzeslage, gerade was die Remigrationsfragen angeht", sagt er Anfang Januar im Gespräch mit einem AfD-nahen Medium. Im Wahlkampf hatte er angekündigt, Geflüchteten statt Geld nur noch Sachleistungen zu gewähren. Seine Fraktion im Kreistag brachte im November einen Antrag ein: Durch die "uferlose Masseneinwanderung" befinde sich der Landkreis Sonneberg im "Kollaps". Die Fraktion forderte unter anderem, Ausländern die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen zu untersagen und Mindestabschiebezahlen zu erreichen.

Umgesetzt hat Sesselmann von alldem nichts, die Fraktion hat den Antrag zurückgezogen. "Zur Ernüchterung seiner Wähler hat das nicht geführt", sagt Uwe Schlammer, der sich nicht nur in der Kleiderkammer engagiert, sondern außerdem für die Linke im Kreistag sitzt. Er sei trotzdem besorgt. "Es gibt immer noch diese Montagsgeschichten." Jeden Montag versammeln sich auf dem zentralen Bahnhofsplatz in Sonneberg hunderte Menschen aus dem Kreis, um gegen die Bundesregierung zu demonstrieren. "Zu so einer Veranstaltung kommen 1000, 1200 Leute. Ob nahezu so viele Menschen kommen würden, wenn wir eine Demo zur Wahrung der Demokratie anmelden würden, das ist aus meiner Sicht nicht sicher."

Alle Mitarbeiter sind geblieben

Keiner der Mitarbeiter des Landratsamts hat seit der Amtsübernahme Sesselmanns gekündigt. Auch wenn im Sommer einige darüber nachgedacht haben – noch sind alle da. Auf den Titelseiten des monatlich erscheinenden Kreisblattes Gruppenfotos von lächelnden Menschen: Sesselmann mit den Azubis des Landratsamtes (alle übernommen), Sesselmann bei der Feuerwehr, Sesselmann mit dem Sparkassenvorstand. Nur einzelne bleiben dabei, dass sie sich nicht mit ihm an einen Tisch setzen wollen – in diesem Text auftauchen will keiner von ihnen.

Mit der Presse spricht Sesselmann selten. Interviews mit den "Staatsmedien" und "gewissen Pressevertretern gewisser Medienkartelle" lehnt er ab, das sagt er am Rande einer Parteiveranstaltung. Er wirft ihnen eine Hetzjagd vor. Will man wissen, wie er selbst über seine Arbeit als Landrat denkt, dann gibt es da nur die Interviews mit Medien, die der AfD nahe stehen und personell und finanziell mit ihr verbandelt sind. Einem erklärte er auf dem Bundesparteitag in Magdeburg seinen Job so: "Ich habe Exekutivgewalt. Das heißt, ich muss mich mit Institutionen wie der IHK oder der Handelskammer an einen Tisch setzen." Durch seine Tätigkeit werde ihm der Zugang zu gewissen Kreisen erleichtert, die dadurch "einen positiven Eindruck von der AfD gewinnen können".

Im Januar erzählte er auf einer anderen Parteiveranstaltung einem AfD-nahen Medium stolz: "Mich hat überrascht, dass diejenigen, die mich vorher nicht gegrüßt haben, mittlerweile doch einen normalen Kontakt mit mir pflegen. Ich denke da zum Beispiel an den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow." Die AfD sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Nicht schlechter als jeder andere Landrat

Mittwoch, 12 Uhr. In zwei Stunden trifft sich Uwe Scheler mit Sesselmann, für einen Besuch im örtlichen Krankenhaus. Scheler ist Bürgermeister des 6000-Einwohner-Städtchens Neuhaus am Rennweg und die Begehung des Krankenhauses mit dem Landrat ist ihm wichtig. Die Klinik steht kurz vor der Insolvenz. Es sind viele, die Sesselmann eine Chance geben, weil sie qua ihrer Ämter oder Berufe eng mit ihm zusammenarbeiten müssen. "Man muss nicht mit dem Landrat in den Urlaub, aber man muss versuchen, mit ihm zusammenarbeiten", sagt Scheler dazu. "Ich hatte ein paar Termine mit ihm, die waren nicht besser und nicht schlechter als mit jedem anderen Landrat."

Scheler kennt Sesselmann schon ewig, sie sind beide im selben Ort geboren und aufgewachsen, inzwischen sind sie beide in ihren 50ern. Er habe Sesselmann nicht als AfD-Politiker, sondern als Mensch kennengelernt, sagt Scheler. Freunde seien sie nie gewesen, aber auf dem Dorf in dem sie aufgewachsen sind, da kennt man sich eben. So war es auch kein Problem für ihn, Sesselmann für den ersten Bürgerdialog das nigelnagelneue Bürgerhaus in Neuhaus zur Verfügung zu stellen. Etwa 50 Menschen kamen. "Viele waren neugierig. Wollten hören, wer der Landrat ist, wie er spricht. Ob er bei den Problemen helfen kann, die wir hier haben."

Und Probleme hat der Landkreis. Der regionale Klinikverbund "Regiomed" ist im Begriff, sich aufzulösen. Die Finanzsituation ist katastrophal und die zwei Standorte im Kreis stehen vor der Pleite. Will der Kreis sie retten, wird das teuer, auch für die Gemeinden, die sowieso schon wenig Geld haben und vor einem Investitionsstau stehen. Viele Leute sind unzufrieden, sagt Scheler. Und das wurde auch bei dem Bürgerdialog deutlich. Warum geht so viel Steuergeld ins Ausland, wo man es doch hier bräuchte, für Kindergärten, für die Gesundheitsversorgung. Warum sind die Kommunen nicht ausreichend finanziert? Sesselmann musste häufig eingestehen, dass er als Landrat nicht zuständig sei. Auch wenn er im Wahlkampf viel über Bundesthemen gesprochen hat: Jetzt ist sein Handlungsspielraum begrenzt. 

Geld, Geld, das bräuchten sie gerade hier. Scheler trifft sich häufig mit Investoren, fast wöchentlich wirbt er bei potenziellen Geldgebern für seine Region. Wollen Sie die Schirmherrschaft für diese und jene Veranstaltung übernehmen? Wollen Sie in dieses Projekt investieren? Nach Sesselmanns Wahl bekam er oft zu hören: "In den blauen Landkreis investieren wir nicht." Es habe Ankündigungen gegeben, sich aus dem Kreis zurückzuziehen. Passiert sei nichts dergleichen. "Alles nur Parolen", sagt Scheler dazu.

Aus dem Landtag zurück in die Provinz

Das Superwahljahr 2024 ist angebrochen: Im Juni die Europawahl und Kommunalwahlen in vielen ostdeutschen Bundesländern, im Herbst Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. In allen drei Ländern ist die AfD in Umfragen die stärkste Kraft. Sesselmann könnte schon am nächsten Sonntag nicht mehr der einzige AfD-Landrat Deutschlands sein: Denn im Saale-Orla Kreis, in Schleiz, rund 70 km von Sonneberg entfernt, könnte am Sonntag der AfD-Kandidat Uwe Thrum die Stichwahl gegen den CDU-Kandidaten Christian Herrgott gewinnen. Knapp 45,7 Prozent stimmten im ersten Wahlgang für Thrum: Handwerker, Landtagsabgeordneter – und ebenfalls ein Höcke-Treuer.

Der Sonneberger CDUler Christian Tanzmeier erinnert sich an Uwe Thrum. Er war da, bei der Vereidigung von Robert Sesselmann zum Landrat des Kreises Sonneberg im August. Thrum, breites Lächeln, trotz brennender August-Hitze im Anzug. Damit fiel er auf in der Aula der Hermann-Pistor-Schule, in der sich Journalisten um ihn und Robert Sesselmann drängten. Die beiden Männer begrüßten sich herzlich. Sie kennen sich gut: Drei Jahre lang waren sie Abgeordnete im Thüringer Landtag, gemeinsam sammelten sie ihre ersten politischen Erfahrungen ausgerechnet in der Höcke-Fraktion. Beide sind jetzt aus Erfurt zurückgekehrt in die Provinz.

Bald schon beginnt in dieser Provinz ein neuer Wahlkampf: Kreistagswahlen stehen an. Es wird anders als sonst, da ist sich CDU-Mann Tanzmeier sicher. "Der Erfahrung nach wählen Menschen auf kommunaler Eben oft die Menschen, die sie persönlich kennen. Aber das scheint nicht mehr so eine Rolle zu spielen. Die Menschen wählen AfD, egal, wen die aufstellt." Am Montag hat er die Traktoren und Autos zur Demo in die Stadt fahren sehen. Sie werden wieder mehr, die Menschen auf den Montagsprotesten, erzählt er.

Was passiert, wenn die AfD dann auch im Kreistag die Mehrheit bekäme? Daran will Tanzmeier lieber nicht denken: "Erinnern Sie sich nur an so Geschichten wie die Demokratie-Projekte. Sowas könnte die AfD mit Sesselmann dann einfach durchziehen."

 

 

 

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