GESUNDHEIT Impfen!? Alle Antworten für die richtige Entscheidung

22.03.2019 10:16

Einst waren wir stolz, Krankheiten durch Impfen zu verhindern. Heute greifen Zweifel um sich, eine lautstarke Minderheit macht gegen das Impfen mobil und verunsichert viele Menschen. GEO-Redakteurin Vivian Pasquet, promovierte Ärztin, hat monatelang Fakten zusammengetragen, mit Experten gesprochen und Argumente abgewogen. Am Ende, sagt sie, sei die Entscheidung ganz einfach

In diesem Artikel
I. Zweifel
II. Die Ständige Impfkommission: Der Club der 18 Weisen
III. Das Kind, das niemals sprechen wird
IV. Wie Impfstoffe entstehen: die Suche nach der perfekten Erreger-Kopie
V. Impfgegner: der Wunsch nach 100-prozentiger Sicherheit
VI. Hoffnung

Wie wahnwitzig der Streit um das Impfen sein kann, ahne ich, als mich die Anweisungen des Arztes David Bardens erreichen. 

Nennen Sie bitte nicht die Stadt, in der ich wohne.

Schreiben Sie nichts über meine familiären Verhältnisse.

Wenige Tage bevor wir uns treffen, versichert er sich bei meinem Kollegen, dass ich wirklich plane, zu ihm zu reisen – und dass sich keine andere Person für mich ausgibt. 

Jetzt sitzt Bardens vor mir und sagt: „Ich hatte überlegt, ob ich zu unserem Gespräch einen Personenschützer mitbringe.“ 

David Bardens hat keine Straftat begangen und hat sich nicht mit der Mafia angelegt. Er fürchtet um sein Leben, weil er laut aussprach, was eigentlich selbstverständlich ist: dass es das Masernvirus wirklich gibt. 

Es begann vor sieben Jahren, Bardens, damals 27, studierte Medizin in Homburg und nahm an der Ausschreibung eines Impfgegners teil. Dieser hatte behauptet, dass das Masernvirus nicht existiere und dass eine Impfung somit überflüssig sei. 

100.000 Euro versprach er demjenigen, der ihm das Gegenteil beweise. 

Nur wenige Stunden brauchte Bardens, um die geforderten Nachweise in einer Bibliothek herauszusuchen, sechs wissenschaftliche Veröffentlichungen.

Zweifelsfrei, so hat es ein Gutachter später geschrieben, hatte Bardens die Existenz des Masernvirus durch diese Veröffentlichungen nachgewiesen. Doch der Impfgegner zahlte nicht. Im November 2013 reichte David Bardens Klage gegen den Impfgegner ein. Ein halbes Jahr später trafen sie sich vor Gericht.

Weltweit berichteten Medien über den Prozess. Journalisten baten Bardens um Interviews, Experten wollten ihn für Vorträge buchen. In sozialen Netzwerken dankten ihm Eltern kranker Kinder für seinen Einsatz. 

Und die Nachrichten der Impfgegner kamen. 

„Wenn du am wenigsten damit rechnest, werden wir dafür sorgen, dass es dir nicht mehr gut geht.“ – „Wir wissen genau, wo du am empfindlichsten bist.“ – „Es wäre besser, wenn du tot wärst.“

Wenn David Bardens fortan den Gerichtssaal betrat, besprach er mit einem Personenschützer die besten Fluchtmöglichkeiten. Wenn er auf die Toilette ging, wartete der Bodyguard vor seiner Kabine. Die Angst, dass man ihn finden könnte, sei nie ganz verschwunden, erzählt Bardens heute, als ich ihn in Schweden treffe. 

Er sagt auch: „Mich öffentlich fürs Impfen einzusetzen, war das Sinnvollste, was ich in meinem Leben getan habe.“

Auch abseits des berühmten „Masern-Prozesses“ hat der Streit zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern irrsinnige Züge angenommen. Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, tauschen sich in geschlossenen Facebook-Gruppen über „Impfmobbing“ aus. Ärzte schmeißen impfmüde Patienten aus ihrer Praxis. Werden Filme von Impfgegnern im Kino gezeigt, sichern schon mal Polizisten den Kinoeingang. 

Das ist auch deshalb beachtlich, weil die Gruppe der harten Impfgegner in Deutschland eher klein ist: Gerade einmal rund zwei Prozent lassen sich oder ihre Kinder überhaupt nicht impfen. 

Diese Gruppe ist allerdings auch sehr laut. Impfgegner pflegen eigene Internetseiten, sie geben Magazine wie den „impf-report“ heraus, sie treffen sich zu Stammtischen und auf Demonstrationen. So kann der Eindruck entstehen, dass es zwei Seiten im Streit ums Impfen gäbe, Gegner und Befürworter. 

Doch es gibt noch eine dritte Gruppe von Menschen. Sie agiert leiser, aber sie kann entscheidend für die Gesundheit einer Nation sein: die Impfskeptiker. 

Als ich anfing, über das Impfen zu recherchieren, traf ich auf viele dieser Skeptiker. Auf Menschen, die ihre Sätze oft so begannen: „Ich bin kein Impfgegner, aber …“ 

Die Angst, mit den „Verrückten“ in einen Topf geworfen zu werden, war groß. 

Die Fragen aber waren trotzdem da.

Ihr Kind habe direkt nach der Impfung eine Nahrungsunverträglichkeit bekommen, das sei doch merkwürdig?, sagte eine Freundin. Er habe gehört, die Dunkelziffer von Impfgeschädigten sei sehr hoch, ob ich da mal nachhaken könnte?, bat mich ein Arzt. Die Tochter einer Bekannten sei nach einer Impfung wochenlang nicht mehr sie selbst gewesen, berichtete eine Kollegin. 

Was also, wenn die Impfgegner doch recht hätten? Und sei es nur ein kleines bisschen?

Ich habe Medizin studiert. Während meiner Ausbildung zur Ärztin habe ich selbst geimpft, hundertfach. 

Ich habe es nie hinterfragt. Denn, und auch das ist Teil der Wahrheit, kaum ein Arzt erfährt während seines Studiums viel über das Impfen. 

Es ist einfach selbstverständlich. 

Ich konnte den Impfskeptikern nicht erklären, wie in unserem Land beschlossen wird, dass jeder Mensch, beginnend im Alter von sechs Wochen, gegen mindestens 15 Infektionskrankheiten geschützt werden soll. Ich wusste nicht, ob es heutzutage noch Opfer von Impfschäden gibt und wie mit ihnen umgegangen wird. 

Ich konnte nicht sagen, wer eigentlich dafür sorgt, dass unsere Impfstoffe sicher sind, und wie er das tut. 

Ich konnte den Wust aus Impfmythen und berechtigter Impfkritik nicht einfach entwirren wie ein Knäuel.

Drei Monate lang bin ich auf der Suche nach Antworten durch Deutschland gereist, nach Belgien und Schweden. Ich sprach mit Ärzten, Psychologen, Mitarbeitern von Behörden und Pharmaunternehmen. 

Ich traf nicht nur Impfskeptiker und -gegner, sondern auch Menschen, die sich ihnen entgegenstellen. 

Ich besuchte einen Vater, dessen Kind sterben wird, weil es einst zu jung für die Impfung war. 

Und eine Mutter, deren Kind behindert ist, weil es geimpft wurde. 

Während ich das Mosaik aus Gesprächen, Treffen und Fachliteratur zusammenlegte, fand ich nicht nur Antworten auf die Fragen der Impfskeptiker.

Stattdessen, und das verstand ich erst später, bin ich zeitweise selbst zu einer Impfskeptikerin geworden. Ich sezierte meine eigenen Zweifel.

I. Zweifel

Der Kinderarzt Steffen Rabe, 54, sitzt auf einem rückenfreundlichen Drehstuhl, barfuß in Slippern, draußen vor dem Fenster hängen Brombeeren fett am Strauch. Es ist ein heller, ein heißer, ein wunderschöner Morgen.

Steffen Rabe spricht über den Tod. 

Mehrmals in der Woche bietet er eine Impfberatung in seiner Kinderarztpraxis in München an. Eine halbe Stunde telefonisches Impfgespräch kostet etwa 70 Euro. Dafür können Eltern alles fragen, was sie umtreibt. 

Etwa: Kann mein Kind an der Krankheit, gegen die es geimpft werden soll, sterben? Gerade spricht der Vater eines vier Monate alten, ungeimpften Kindes. 

„Herr Rabe, kann man an Tetanus sterben?“ 

„Ja. Tetanus ist zwar eine sehr seltene, aber eine sehr schwere Krankheit. Und die Impfung dagegen schützt tatsächlich.“

Bei Tetanus scheint auch mir die Antwort klar. Unbehandelt sterben viele Infizierte daran. Doch was ist mit Masern, den Windpocken oder den Rotaviren? Mit Krankheiten, an denen ein Infizierter von tausend stirbt, von hunderttausend, von zweihunderttausend? 

Herr Rabe, wie viele Tote wären ok? 

„Das ist eine polemische Frage. Ich rate den Eltern nicht von einer Impfung ab. Ich gebe ihnen lediglich Informationen, die sie von anderen Kinderärzten oft nicht bekommen. Dazu gehört auch das Risiko von Nebenwirkungen. Nur so können sie eine selbstbestimmte Entscheidung treffen.“ 

Steffen Rabe ist Mitgründer von „Ärzte für individuelle Impfentscheidung“, einem Verein, dessen Mitglieder auch mal abweichend von offiziellen Impfempfehlungen beraten. 

Er ist ein nahbarer Typ. Wenn er Patienten anruft, meldet er sich mit: „Der Rabe hier.“ Als sei der Held eines Kinderbuchs am Telefon.

Ein Elternpaar beginnt das Gespräch: „Wir wollen nur die Grundausstattung.“ Rabe könnte nun sagen, dass er ein Arzt ist und kein Autoverkäufer. Stattdessen berät er geduldig, beantwortet alle Fragen und betont: „Was Sie am Ende impfen, ist allein Ihre Entscheidung.“ 

Der nächste Anruf, eine Mutter, vollkommen aufgelöst, weil ihr Exmann das gemeinsame Kind gegen ihren Willen impfen lassen möchte. Hat Rabe öfters, diese Situation. Schlechte Karten für die Mutter, 2017 hat der Bundesgerichtshof verkündet: Wer impfen möchte, bekommt recht. 

So unterschiedlich die Anliegen der Anrufer sind, eines haben sie gemeinsam: Sie trauen der Arbeit der Ständigen Impfkommission (STIKO) nicht, eines Gremiums von Ärzten und Wissenschaftlern, das fast jedes Jahr Impfempfehlungen herausgibt.

Steffen Rabe findet, dass die Empfehlungen der STIKO oft fragwürdig sind. 

Die für die Impfung gegen Hepatitis B zum Beispiel: „Die Impfung wird von der STIKO im Alter von zwei Monaten empfohlen. Wissen Sie, wie das Virus hierzulande übertragen wird? Durch ungeschützten Sex und Blut! Also ich sag mal so: Wenn Sie den Überblick verlieren, mit welchem Mädel ihr Sohn am Frühstückstisch sitzt, dann sollten Sie mit ihm über diese Impfung reden. Die STIKO aber sagt, dass sich Kleinkinder etwa an Fixerspritzen auf dem Spielplatz infizieren könnten. Das ist lächerlich unwahrscheinlich.“ 

Rabe ist ein König der Rhetorik. Er geht auf Fragen nicht einfach ein, er ertränkt sie in Antworten. Greift Beispiele aus dem Leben auf, zitiert Studien, stellt Hypothesen auf. 

Nach dem Besuch in seiner Kinderarztpraxis sortiere ich seine Behauptungen.

Die STIKO? Sei zu wenig unabhängig von Interessen der Pharmaindustrie. 

Allergien durch Impfungen? Könne man nicht sicher ausschließen. 

Nebenwirkungen von Impfstoffen? Würden nur unvollständig erfasst, es gebe eine hohe Dunkelziffer von Impfschäden.

Der richtige Impfzeitpunkt? Werde viel zu einheitlich empfohlen, man solle mehr Rücksicht auf die Lebensumstände nehmen.

Gesamtfazit: Wir wissen viel zu wenig über das Impfen, um pauschale Empfehlungen dafür auszusprechen. Mit dem derzeitigen Kenntnisstand müsste man mit vielen Impfungen eigentlich aufhören. 

Ich habe gelernt, wissenschaftlich zu arbeiten. In meinem Beruf als Journalistin fasse ich immer wieder komplexe Vorgänge zusammen. Doch solch ein Trommelfeuer aus Thesen und Gegenthesen habe ich noch nicht erlebt. 

Ein umstrittenes Buch, das Steffen Rabe Eltern empfiehlt, listet allein mehr als 1000 wissenschaftliche Veröffentlichungen auf. 

Wie soll man als Patient, frage ich mich in München, all diese Quellen prüfen und eine individuelle Impfentscheidung treffen? 

Und, vielleicht noch viel wichtiger: Weshalb sollte man das überhaupt tun?

II. Die Ständige Impfkommission: Der Club der 18 Weisen

In Berlin am Robert-Koch-Institut, in einem menschenleeren Raum, versuche ich sie mir vorzustellen: eine Sitzung der Ständigen Impfkommission (STIKO). Hinten nahm vielleicht die Frauenärztin aus München Platz, einen Stapel Notizen in der Hand. Sie bereitet sich akribisch auf Treffen vor. Neben ihr könnte der Kinderarzt aus Berlin gesessen haben, der sich regelmäßig mit Impfgegnern anlegt. Gegenüber die Professorin für Public Health und der Professor für Mikrobiologie aus Erlangen. 18 Mitglieder insgesamt. 

Dazu die Beobachter, ohne Stimmrecht: eine Mitarbeiterin des Paul-Ehrlich-Instituts (zuständig für die Sicherheit von Impfstoffen), Angestellte des Bundesministeriums für Gesundheit und des Auswärtigen Amtes. Und hier, ganz vorn vielleicht, stand Professor Thomas Mertens, der Vorsitzende der STIKO, und eröffnete die Sitzung.

So könnte es gewesen sein. 

Seit der Gründung der STIKO im Jahr 1972 tagt sie mehrmals im Jahr unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Journalisten haben keinen Zutritt. Einziges Zeugnis der Sitzungen: ein Protokoll, im Internet abrufbar. 

Auch die Kriterien der Auswahl der Mitglieder durch das Bundesministerium für Gesundheit bleiben geheim: Keines der Mitglieder weiß, weshalb er oder sie für das Impfstoffgremium auserwählt wurde. Empfiehlt die STIKO eine Impfung, übernehmen Krankenkassen meist die Kosten; sie wird dann millionenfach verabreicht. Der Staat wiederum verpflichtet sich, Opfer von Impfschäden finanziell zu entschädigen. 

Diese Maßnahmen sollen helfen, dass sich so viele Menschen wie möglich impfen lassen – und dass sich bei manchen Impfstoffen ein Effekt ausbildet, den man Herdenimmunität nennt: Durch ihn schützen Geimpfte sogar Menschen, denen sie nie im Leben begegnen werden. Anders als der Kinderarzt Steffen Rabe hat die STIKO also nicht nur den Einzelnen im Blick, sondern kümmert sich um die Gesundheit der ganzen Nation. 

Kritiker sagen, dass sich die Mitglieder der STIKO noch um mehr kümmern: um das Wohl der Pharmafirmen. 

Einen Beweis für diesen immer wiederkehrenden Vorwurf gibt es nicht. Jedoch mussten STIKO-Mitglieder viele Jahrzehnte lang Interessenkonflikte nicht offenlegen. Manche stimmten so über Impfstoffe von Firmen ab, von denen sie etwa selbst Forschungsgelder erhielten. 2007 wechselte der damalige Vorsitzende der Kommission zu einer Pharmafirma. In der Öffentlichkeit kam das nicht gut an. 

Seit Ende 2009 muss nun jedes Mitglied einen 19-seitigen Fragebogen zu potenziellen Interessenkonflikten mit Pharmafirmen ausfüllen. Hält es bezahlte Vorträge? Forscht es im Auftrag der Pharmaindustrie? Hat es Anteile an Unternehmen? Je nach Ergebnis darf das Mitglied an der Beratung und Abstimmung über den jeweiligen Impfstoff nicht mehr teilnehmen. Während jeder Sitzung steht deshalb immer mal wieder einer der 18 Weisen auf und verlässt den Raum.

Überall in Europa gibt es Kommissionen wie die STIKO. Im Grundsatz sind sie sich einig: Alle empfehlen Impfungen gegen Tetanus, Masern, Kinderlähmung und Diphtherie. 

Im Detail aber gleicht keine Impfempfehlung exakt der anderen. 

Österreich empfiehlt teils weniger Auffrischimpfungen als Deutschland, Großbritannien impft gegen andere Erreger der Gehirnentzündung als Island. Frankreich hat sich, genau wie 16 andere europäische Staaten, gegen die Windpockenimpfung entschieden. 

In Deutschland kommt sogar noch eine weitere Besonderheit hinzu: Sachsen hat eine eigene Impfkommission eingerichtet, die teilweise andere Empfehlungen als die STIKO ausspricht. Sachsen! 

Unter Impfskeptikern gelten die unterschiedlichen Empfehlungen als Beleg dafür, dass der Impfkalender der STIKO nur eine Option von vielen ist. 

Vielleicht ist die Kommission in Österreich viel schlauer als unsere? Oder die Schweden, Malteser, Griechen wissen es besser? Wo liegt die Wahrheit? Und was wird vertuscht? 

Neben den Interessenkonflikten sind es diese Art Fragen, die ich in der Kinderarztpraxis von Steffen Rabe hörte oder auf impfkritischen Internetseiten und in Büchern las. 

Nur eine Frage, die höre ich nie. Wie entscheidet die STIKO eigentlich darüber, welche Impfungen sie empfiehlt?

In Berlin treffe ich Thomas Harder, 50, Epidemiologe. Er arbeitet im Fachgebiet für Impfprävention am Robert-Koch-Institut. 

Harder ist ein Mann von rührender Korrektheit, kaum eine Behauptung macht er ohne einen Hinweis darauf, womit er sie begründet. Denken die 18 Weisen über eine Impfempfehlung nach, werden lange vor der entscheidenden Sitzung Arbeitsgruppen gebildet. 

Thomas Harder, menschgewordenes Quellenverzeichnis, ist Teil eines Teams von Wissenschaftlern, das den STIKO-Mitgliedern zuarbeitet. Ohne dieses Team wäre kaum eine Empfehlung möglich, denn alle 18 STIKO-Mitglieder arbeiten ehrenamtlich. 

Während meiner Impfrecherche ist die jüngste Empfehlung wenige Monate alt: Im Juni 2018 entschied sich die STIKO für die Impfung gegen Humane Papillom Viren (HPV) für Jungen. HPV werden beim Sex übertragen, Kondome schützen nur bedingt. 

Bisher hatte die Kommission nur Mädchen zu einer Impfung geraten, weil das Virus als die Hauptursache für Gebärmutterhalskrebs gilt. Zwar können auch Jungen an Krebs erkranken, etwa am Penis, das tritt jedoch viel seltener auf. Impfskeptiker sehen da ein Problem: Weshalb Jungen deutschlandweit impfen, wenn die schlimmste Folge fast immer nur die Mädchen trifft? 

Harder kennt dieses Phänomen: Skeptiker reduzieren ihre Impfentscheidung auf eine einzelne Frage. Er sagt: „Diese Denkweise ist menschlich, besonders logisch ist sie nicht.“ 

Tatsächlich geht es bei jeder Impfung nämlich nicht um eine einzelne Frage, sondern um Hunderte. Ohne System verliert man da schnell den Überblick.

Das System hat Harder mitgebracht, ein Dokument, 31 Seiten dick: die „Standardvorgehensweise (SOP)“. Die SOP gilt seit dem Jahr 2011 und bedeutet für die Geschichte der STIKO eine kleine Revolution.

Denn viele Empfehlungen aus den 1970er Jahren waren zwar erfolgreich und gelten im Kern bis heute, etwa die für die Impfung gegen Masern oder Röteln. Nach welchen Kriterien damals entschieden wurde, ist aber nicht mehr nachvollziehbar. Und manchmal zählte die Meinung einzelner STIKO-Mitglieder mehr als systematisch zusammengetragene, wissenschaftliche Beweise.

Nach einem Jahre dauernden Modernisierungsprozess sorgt das Arbeiten nach der SOP nun für größtmögliche Transparenz. Es ist auch der Versuch, jedes persönliche Empfinden, jeden Interessenkonflikt, jede Privatmeinung vom wichtigsten deutschen Impfstoffgremium abzustreifen.

Dafür legt das Dokument Arbeitsschritte, Fragen und Ziele fest, die Thomas Harder und ein Team abarbeiten. Im Fall der HPV-Impfung fragten sich die Forscher: Ist die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung bei Männern hoch genug, um eine bundesweite Impfung zu rechtfertigen? Darf die Tatsache, dass die Impfung auch Genitalwarzen verhindert, bei der Bewertung eine Rolle spielen? Wie muss eine Empfehlung aussehen, damit auch schwule Männer, die nicht durch eine Impfung der Frauen geschützt werden können, nicht durchs Raster fallen?

Sind die Ziele festgelegt, beginnt die systematische Literaturrecherche. Dabei suchte Harder weltweit in Datenbanken nach wissenschaftlichen Publikationen, um die Fragen zu beantworten – und beurteilt die Qualität der Forschungsarbeiten. 

Vier Monate haben Thomas Harder und eine Kollegin allein mit der Literaturrecherche verbracht. Jeder arbeitete dabei zunächst für sich allein, blind für die Ergebnisse des anderen. 

Ein unglaublicher Aufwand – und nur ein Bruchteil der Arbeit. 

Bevor die STIKO-Mitglieder schließlich zusammenkamen, um die Entscheidung zu treffen, haben ärztliche Fachgesellschaften Rückmeldung zu den Ergebnissen von Harder gegeben; wurde für hundert Jahre im Voraus bestimmt, wie viele Krebserkrankungen durch eine Empfehlung verhindert werden könnten; haben Ökonomen berechnet, wie viel Geld der Staat durch weniger Krebserkrankungen spart; haben sich Epidemiologen mit möglichen Nebenwirkungen der einzelnen Impfungen beschäftigt, und Sexualforscher schätzten ein, wann ein Jugendlicher im Durchschnitt den ersten sexuellen Kontakt hat. 

Schließlich wurde noch überlegt, ob sich die HPV-Impfung reibungslos in den Impfkalender der STIKO einfügen lässt – in dem ganz genau festgelegt wird, in welcher Lebenswoche, in welchem Lebensmonat, in welchem Lebensjahr ein Mensch welchen Impfstoff empfangen soll. 

Als schließlich 15 der 18 STIKO-Mitglieder für die Abstimmung zusammentrafen, hatte die Vorbereitung der Empfehlung zwei Jahre gedauert. 

Ein Mitglied stimmte gegen die Impfung. 14 stimmten dafür.

Der Vorsitzende der STIKO, Professor Thomas Mertens, 68, saß bei der entscheidenden Sitzung mit am Tisch, stimmte für die Impfung. Trotzdem sagt er mir: „So ganz sicher ist man sich während der Arbeit vor mancher Entscheidung nicht.“ 

Mertens ist es wichtig, das zu sagen: Es ist normal, zu zweifeln. Jeder Wissenschaftler, jeder Arzt sollte das tun. 

Mertens ist seit 2004 bei der STIKO, nicht bei jeder Empfehlung ging er von Anfang an mit. 2014 stimmte er nicht für die Windpockenimpfung, weil ihm mögliche Spätfolgen der Impfung nicht ausreichend klar schienen.

Eine „individuelle Impfentscheidung“ hält er trotzdem für falsch: „Solche Forderungen sind elitär und weltfremd.“ 

Denn welcher Arzt könne das schon leisten: Pro und Contra mit den Patienten diskutieren, stundenlang?

Und wenn jeder impft, was und wann er möchte, wie stellt man dann sicher, dass bei 80 Millionen Menschen niemand übersehen wird? 

Dass die Mutter daran denkt, die Tetanus-Impfung nachzuholen, ehe das Kind zum ersten Mal im Wald spielt? 

Dass der Drogenabhängige sich daran erinnert, seinen Hepatitis-B-Impfstatus zu checken? 

Dass ein Jugendlicher vor dem ersten Sex noch rasch zum Arzt geht, um seine HPV-Impfung nachzuholen? 

Und wie schafft man es, Infektionskrankheiten weltweit einzudämmen, wenn jeder nur noch das impft, was er möchte? 

Als ich die Praxis von Steffen Rabe in München verließ, schienen mir manche seiner Kritikpunkte plausibel. Am Robert-Koch-Institut in Berlin wird mir klar, dass es kein Arzt schaffen kann, die Arbeit von etlichen Wissenschaftlern ganz allein zu machen. 

Was aber, wenn trotz aller Sorgfalt der STIKO-Empfehlung etwas schiefgeht? Und ein Mensch durch eine Impfung zu Schaden kommt? 

III. Das Kind, das niemals sprechen wird

Zu Beginn meiner Impfrecherche rief ich bei einer Bundesbehörde an. Ich wollte herausfinden, wie viele Menschen in Deutschland mit einem Impfschaden leben. Statt einer Antwort fragte mich die Mitarbeiterin: „Weshalb wollen Sie das wissen? Sie werden doch wohl nichts Schlechtes über das Impfen schreiben!“ 

„Aber es gibt doch Menschen mit Impfschäden, oder?“

„Ja, aber das sind so wenige! Wenn Sie darüber berichten, könnte die Impfquote sinken. Können Sie das nicht weglassen?“

Erst ärgerte ich mich über diese Frau. Nur weil etwas selten ist, dachte ich, sollte man es nicht verschweigen. Es würde schließlich auch niemand verlangen, nicht über einen Flugzeugabsturz zu berichten, nur weil er sehr selten passiert. 

Ganz so einfach ist die Sache beim Impfen aber nicht. 

Das zeigt eine Studie der Universität Erfurt. Zu Beginn des Experiments informierten die Wissenschaftler ihre Probanden über die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen einer (fiktiven) Impfung.

Danach baten sie die Teilnehmer, sich durch ein Internetforum zu klicken, wo  von vielen Einzelschicksalen mit schweren Nebenwirkungen erzählt wurde. Nach dem Besuch des Forums schätzten die Probanden die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen viel zu hoch ein – obwohl sie es durch den ersten Teil des Experiments eigentlich besser wussten.

Erbarmungslos leuchtete der Versuch die psychische Schwachstelle des Wesens Mensch aus: Wir sind unglaublich schlecht darin, Risiken einzuschätzen.

Menschliche Schicksale lenken uns von Zahlen ab.

Um zu verstehen, wie verschwindend gering die Wahrscheinlichkeit eines Impfschadens tatsächlich ist, können Statistiken aus den Jahren 2005 bis 2009 helfen. Damals wurde zuletzt die Anzahl aller anerkannten Impfschäden in Deutschland erhoben. 

Im Jahr 2008 war die Zahl am höchsten und dennoch winzig klein: 43 Fälle – bei mehr als 45 Millionen verabreichten Dosen. Das entspricht 0,0001 Prozent.

Klickt man sich jedoch durch Internetseiten von Impfgegnern, wird man Zeuge schrecklicher Szenarien, sieht Bilder schwer behinderter Kinder und liest immer wieder die Behauptung: Die Impfung ist schuld. 

Eine ungute Situation ist so entstanden: Die Gegner sind schrill und laut und erlangen so Deutungshoheit über menschliche Schicksale. Impfbefürworter dagegen wollen am liebsten überhaupt nicht über Impfschäden sprechen. 

Trotzdem habe ich das Mädchen Mirja besucht.

Als ich in Bürstadt nahe Frankfurt ankomme, sitzt die Achtjährige allein in der Krabbelecke ihrer kleinen Schwester. Auf den ersten Blick sieht man Mirja ihre Behinderung nicht an. Doch sitzen Achtjährige normalerweise nicht in der Krabbelecke. Achtjährige sprechen. Mirja aber sagt kein einziges Wort. 

„Ich antworte nie einfach nur, dass meine Tochter einen Impfschaden hat, sondern immer auch, dass der Schaden gerichtlich anerkannt ist“, sagt Mirjas Mutter Nicole Jung, 42. Sonst würden ihr die Menschen ohnehin nicht glauben.

Ruhig erzählt sie, wie Mirja im Alter von einem Jahr nach einer Impfung schwere Krampfanfälle bekam und tagelang im Koma lag. 

Ein Arzt fragte die Mutter am Krankenbett ihrer Tochter, ob Mirja Spülmittel getrunken haben könnte. Heute kann sich Mirja selbstständig hinsetzen und im Schneidersitz durch die Wohnung hoppeln. 

Kein Arzt kam auf die Idee, dass die Impfung schuld an den Krampfanfällen des Kindes gewesen sein könnte. Eine Bekannte wies Frau Jung schließlich darauf hin. Da es keine Beratungsstellen für solch einen Fall gibt, wandte sie sich an einen Verein, dessen Vorsitzende Impfgeschädigte fast im Alleingang berät. 

Mit ihrer Hilfe, sagt Nicole Jung heute, habe sie überhaupt eine Chance gehabt, das zu überstehen: Anträge, Gutachten, Prozesse und Widersprüche in Endlosschleife.

Nicole Jung ist eine unaufgeregte Frau. Doch als sie erzählt, wie sie, nach sechs Jahren Kampf, den Gerichtssaal als Siegerin verließ, wendet sie den Kopf ab und weint. 

Das Urteil bewahrt sie nahe der Krabbelecke in einem Schrank auf. Darin steht, wie es gewesen sein muss: Durch die Impfung bekam Mirja hohes Fieber. Ein bekanntes Symptom, das normalerweise keine Probleme verursacht. Weshalb Mirjas Körper aber die Temperatur nicht meistern konnte und sie schwere Krampfanfälle bekam? Konnte kein Gutachter beantworten. 

Der Richterspruch erkennt an, dass es ohne Impfung kein Fieber und in der Folge auch keinen Anfall gegeben hätte. 

Mirja sichert das Urteil eine kleine Rente. Nicole Jung schenkt es ein bisschen Frieden.

Paul-Ehrlich-Institut, Langen bei Frankfurt: Hier telefonieren Mitarbeiter ständig mit Menschen, die sicher sind, Opfer von Nebenwirkungen zu sein. Die sicher sind: Die Impfung hat sie krank gemacht.

Im Gegensatz zu Ländern wie Belgien oder Norwegen gibt es in Deutschland kein Impfregister. Nirgendwo wird zentral gespeichert, wer sich impfen lässt und wer nicht. Vermuten Ärzte oder Pharmafirmen eine Nebenwirkung, so müssen sie Meldung machen. 

Dieses „passive Meldesystem“ hat eine Schwäche: Was nicht gemeldet wird, geht auch nicht in die Statistik ein. Seit Jahren schon steht das System deshalb in der Kritik, gelöst ist das Problem bis heute nicht. Eine Neuerung aber gab es: Seit 2012 können auch Patienten selbst offiziell Meldung an das Paul-Ehrlich-Institut machen. Dafür wurde eigens ein Formular im Internet entwickelt. 

Trotzdem rufen manche Menschen einfach direkt im Paul-Ehrlich-Institut an. Die Mutter, deren Kind sich seit der Impfung „irgendwie komisch“ verhält. Die Frau mit den Migräneattacken. Der alte Mann, der vor Jahrzehnten eine Impfung gegen die Pocken erhielt und nun Probleme mit dem Herzen hat. 

Alle Meldungen, ob abwegig oder nicht, tragen die Mitarbeiter in eine Datenbank ein.

Ein Stab aus Wissenschaftlern prüft anschließend, ob das gemeldete Symptom mit der Impfung in Zusammenhang stehen könnte. Bei Fieber oder einer Schwellung an der Einstichstelle ist die Sache klar: Sie werden häufig gemeldet, weil das Immunsystem deutlich auf die Impfung reagiert. 

Manchmal aber werden die Wissenschaftler zu Detektiven, durchforsten Krankenakten, sprechen mit Ärzten und Betroffenen, erkundigen sich nach Vorerkrankungen und den Wohnverhältnissen. 

Oft stoßen sie dabei auf Menschen mit genetischen Defekten und schwachem Herz, auf Unfälle und natürliche Todesursachen; auf ganz andere Gründe für Krankheit und Tod. 

Zum Beispiel im Jahr 2008, kurz nach Empfehlung der HPV-Impfung für Mädchen. Todesfall nach einer HPV-Impfung, hieß es. In Wahrheit war ein kaputter Heizboiler schuld, eine Kohlenmonoxidvergiftung.

Die Wächterin über die Impfstoffsicherheit in Deutschland tippt auf den Bildschirm eines Mitarbeiters. „Klicken Sie doch mal zurück!“, ruft sie, „Da! Die Meldung gab es zuerst in Asien!“ 

Brigitte Keller-Stanislawski, 60, ist Chefin der Abteilung für Arzneimittelsicherheit am Paul-Ehrlich-Institut; eine Frau, die nicht gern rastet, seit Jahren isst sie vor lauter Arbeit nicht mehr zu Mittag, ihr fehle die Zeit. 

Sie sagt: „Wir machen hier so viel, aber bei den Leuten kommt das nicht an. Unsere Kommunikationsstrategie ist nicht so gut. Darin sind die Impfgegner besser.“ 

Die würden zum Beispiel nur von den Schwächen des deutschen Meldesystems erzählen. Kein Wort davon, dass die deutsche Datenbank mit Meldesystemen auf der ganzen Welt verknüpft ist und Brigitte Keller-Stanislawski dadurch nicht nur alle Symptom-Meldungen in Deutschland überblickt, sondern dass sie hier, in Langen am Computer, auch Einblick hat in die Nachricht einer Grippeerkrankung nach Impfung in Italien, den Ohnmachtsanfall aus Brasilien, die Nervenentzündung in den USA. 

Diese digitale Vernetzung ist das eigentliche Herzstück der Impfstoffsicherheit: Selbst wenn in Deutschland einzelne Zwischenfälle nicht gemeldet werden, wird das durch Meldungen aus anderen Ländern ausgeglichen. 

Würde ein Impfstoff, wie Impfgegner behaupten, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Allergien, Autismus auslösen – es wäre den Impfstoffwächtern, die Daten von zig Millionen Menschen zusammenführen, aufgefallen. 

Elfmal im Jahr reist Keller-Stanislawski nach London, um Auffälligkeiten mit Kollegen aus allen EU-Ländern zu besprechen. 

Als 2010 die Impfung gegen die pandemische Schweinegrippe in äußerst seltenen Fällen eine schwere Form der Schlafkrankheit verursachte, schlugen die Schweden und Finnen Alarm. Der Impfstoff ist inzwischen vom Markt genommen. 

Keller-Stanislawski sagt: „Meistens aber geht es bei unseren Treffen überhaupt nicht um Impfstoffe, sondern um andere Arzneimittel. Impfstoffe sind nicht unsere Problemkinder. Verstehen Sie? Das sind die sichersten Medikamente überhaupt.“

IV. Wie Impfstoffe entstehen: die Suche nach der perfekten Erreger-Kopie

Ich habe Fragen zu meinem Gesundheitszustand beantwortet und mein Handy abgeben müssen. Ich habe zwei Schleusen durchquert, meine Kleidung abgelegt, einen sterilen Schutzanzug und zwei Haarnetze angezogen.

Dann bin ich drin. 

„Kommen Sie“, sagt eine Mitarbeiterin und eilt voraus. Unter Luftfilteranlagen hindurch, an gläsernen Trennwänden vorbei, dahinter Rohre, Tanks, Menschen in Schutzanzügen, wie von einem fremden Planeten. Die Mitarbeiterin öffnet eine Code-gesicherte Tür. Sie zeigt auf zwei hüfthohe Stahltanks, die im Bauch des Gebäudes ruhen wie Embryonen. 

„Hier ist es“, sagt sie feierlich, „hier fängt alles an.“

Ich bin nach Belgien gereist, um zu verstehen, woher Impfstoffe kommen und wie sie funktionieren. Wie machen das Forscher: unser Immunsystem zu überlisten, dieses wahnwitzige Konstrukt aus Milliarden von Zellen, das wegen seiner Komplexität und Lernfähigkeit fast als zweites Gehirn bezeichnet werden könnte? 

Der britische Pharmakonzern GlaxoSmithKline (GSK) ist einer der wichtigsten Hersteller von Impfstoffen überhaupt; für nahezu jeden empfohlenen Impfstoff in Deutschland hat der Konzern die entsprechende Zulassung. Die Liste der Angreifer, mit denen sie es hier aufnehmen, liest sich wie ein Portfolio der Grausamkeiten von Mutter Natur: Das Tetanus-Bakterium, das Muskeln krampfen lässt, so stark, dass mitunter dabei Knochen brechen. Das Keuchhusten-Bakterium, das kleine Kinder röcheln lässt wie Hunde. 

Das Poliovirus, das die Infizierten innerhalb weniger Tage zu Krüppeln machen kann.

Der Erreger der Diphtherie, auch „Würgeengel“ genannt, weil er den Hals so stark anschwellen lässt, dass Patienten daran ersticken können. 

Das Pharmaunternehmen GSK unterhält Labore und Büros auf der ganzen Welt. Und hier, in Wavre nahe Brüssel, sitzt so etwas wie ihr Herz: eine der größten Produktionsstätten für Impfstoffe weltweit. 

Man könnte auch sagen: eine der größten Produktionsstätten von Krankheitserreger-Kopien weltweit. 

Denn nichts anderes tun Impfstoffe: Sie imitieren einen Erregerbefall. 

Daraufhin bildet unser Immunsystem etwa spezielle Eiweiße, um sich zu verteidigen, die Antikörper. 

Im Fall einer echten Infektion erinnert sich der Körper und kann sich dann viel effektiver gegen den Erreger wehren.

Was simpel klingt, birgt eine Frage, an der sich Wissenschaftler seit mehr als 200 Jahren abarbeiten; eine, die entscheidend für die Gesundheit der ganzen Welt sein kann: 

Wie sieht die perfekte Erreger-Kopie aus?

Früher, zu Zeiten der Pocken, schien die Antwort klar: Forscher nahmen ein ungefährlicheres Virus (Kuhpocken) und verabreichten es dem Impfling. Ein Vorgehen, das oft zu schweren Impfreaktionen und Impfschäden führte – schließlich hat das Virus rund 200 Antigene, auf die der Körper reagiert. 

Im Laufe der Jahre hat der Mensch immer feinere Herstellungstechniken für zunehmend maßgeschneiderte Kopien eines Erregers gefunden. Im Falle von Tetanus und bei Diphtherie beispielsweise wird nicht das ganze Bakterium unschädlich gemacht, sondern lediglich das abgeschwächte Gift injiziert. 

Oder man betrachte die Pneumokokken, Verursacher schwerer Lungenentzündungen: Der Impfstoff besteht nur aus Teilen der Zellhülle. 

Die beiden Stickstofftanks, vor denen ich beim Pharmariesen GSK im belgischen Wavre stehe, sind so etwas wie ein vorläufiger Höhepunkt auf der Suche nach der perfekten Kopie. Die Zellkulturen darin können etwas herstellen, das nach etlichen Prozessen in fast vollkommener Reinheit vorliegt: das „Glykoprotein E“ – die neueste Virusstück-Kopie des Unternehmens. 

Sie ist Hauptbestandteil eines Impfstoffes, der im Dezember letzten Jahres von der STIKO empfohlen wurde. 

Er soll der Gürtelrose (einer schmerzhaften Erkrankung von Nerven) vorbeugen und ist aus vielen Gründen ein Schritt in Richtung Zukunft. 

Nicht nur wegen seiner Zielgenauigkeit, sondern auch weil er keine Aluminiumverbindungen enthält. 

Außerdem ist er einfach herzustellen – zumindest, wenn man ihn mit anderen Impfstoffen vergleicht. 

Bei der Grippe etwa züchten Unternehmen die Viren in Hühnereiern, eine halbe Milliarde Eier werden so für die Impfstoffe benötigt – jedes Jahr. 

Bei manchen komplizierten Mehrfachimpfstoffen dauert es drei Jahre, bis alle Komponenten bereit sind. Lange bevor ein Kind gezeugt wird, hat die Produktion seiner Impfstoffe also schon begonnen. 

Impfstoffe, das verstehe ich bei GSK, sind mit anderen Medikamenten nicht vergleichbar. 

Wenn eine Krankheit ausbricht, dann kann man keine Maschine anschmeißen und die Impfstoffe mal eben schnell nachproduzieren. 

Das erklärt, weshalb es manchmal zu Engpässen während großer Krankheitsausbrüche kommt oder warum bisweilen auch viel mehr Impfstoff produziert wird, als am Ende benötigt wird. 

Thomas Breuer, 57, leitet die medizinische und wissenschaftliche Abteilung für Impfstoffe bei GSK. Seit 17 Jahren ist er bei dem Unternehmen, davor war er am Robert-Koch-Institut angestellt. 

Als seine Kollegen und Freunde hörten, dass er zu einem Pharmakonzern wechsle, wünschten sie ihm viel Glück „auf der dunklen Seite“. 

Breuer frustrieren solche Pauschalurteile über seine Arbeit. Auch deshalb hat er angefangen, im Internet Fotos hochzuladen. 

Thomas Breuer, lachend, wie er sich die Impfung gegen die Grippe in den Arm spritzen lässt. Thomas Breuer, wie er den neuesten Impfstoff gegen die Gürtelrose empfangen hat. 

Jede seiner Gesten soll ausdrücken: Meine Firma verdient zwar Geld mit Impfstoffen, aber ich glaube auch an sie. 

Hört man Thomas Breuer zu, wird auch klar, dass die Suche nach der perfekten Erreger-Kopie, gerade am Höhepunkt angelangt, bald schon wieder Vergangenheit sein könnte. 

Stattdessen forschen Pharmariesen längst an Impfstoffen, die viel mehr abwehren sollen als Bakterien- oder Virusattacken. Man plant hier schon Impfungen gegen Bluthochdruck, gegen Übergewicht, Akne, sogar gegen genetisch angelegten Krebs.

Die ersten Schritte hierfür, sagt Thomas Breuer, seien längst unternommen.

V. Impfgegner: der Wunsch nach 100-prozentiger Sicherheit

Immer wieder werden die Zweifel in mir angefacht. Ich war nicht vorbereitet auf diese Wucherung von Thesen und Ängsten. Das Thema Impfen polarisiert, kaum einer meiner Gesprächspartner bleibt davon unberührt.

Schließlich, Wochen nachdem ich aufgebrochen bin, erfahre ich: Es gibt einen zweiten Impf-Reisenden. 

Sein Name ist David Sieveking, ein Filmemacher aus Berlin. Er wollte seine Tochter impfen lassen, seine Freundin war dagegen. Der Film dokumentiert seine Suche nach Antworten auf die Impf-Angst seiner Freundin. 

Dabei passiert Sieveking etwas, gegen das auch ich während meiner Reise immer wieder ankämpfen muss: Er geht in der Flut aus Falschbehauptungen verloren.  

Am Ende lässt er seine Tochter nur gegen selbst ausgewählte Krankheiten impfen. Im Herbst 2018 läuft sein Film „Eingeimpft“ in deutschen Kinos an. 

Danach bricht über Sieveking die mediale Hölle los. Journalisten und Zuschauer machen sich hundertfach über die Erkenntnisse seines Films lustig. 

Die Bandbreite reicht von sachlicher Kritik bis zu dem Vorwurf, Sieveking sei ein Kindermörder. 

Eine Frage, vielleicht die wichtigste, rückt dabei in den Hintergrund: Wie konnte es dazu kommen, dass ein Vater, der ehrlich rausfinden wollte, was das Beste für seine Tochter ist, entscheidet, ihr wichtige Impfstoffe zu verweigern? 

Wie machen das Impfgegner: dass Suchende wie David Sieveking ihnen mehr Glauben schenken als den Empfehlungen der STIKO?

Es ist „wichtig, dass Menschen die Techniken der Impfgegner verstehen. Dann fallen sie nicht so leicht auf sie herein“, sagt Cornelia Betsch, 39. Sie ist Professorin für Psychologie an der Universität Erfurt, in ihren Arbeiten beschäftigt sie sich auch mit der Frage, weshalb Menschen impfen oder nicht. 

Betsch sagt, die Strategien der Impfgegner seien unter Forschern längst identifiziert.

Zum Beispiel das cherry picking: Aus der Masse von wissenschaftlichen Veröffentlichungen picken sich die Gegner nur diejenigen heraus, die ihre Behauptungen unterstützen. Dabei ignorieren sie, dass eine Gesamtschau aller Ergebnisse die Wahrheit abbildet, nicht einzelne wissenschaftliche Veröffentlichungen.

Im Gegensatz zu Thomas Harder, der am Robert-Koch-Institut über Monate hinweg Literaturrecherchen betreibt, zitieren sie oft nur wenige Studien, die ihre Behauptungen vermeintlich stützen. Gegenreden oder widersprüchliche Veröffentlichungen unterschlagen sie. 

Andere stellen unmögliche Erwartungen an die Wissenschaft, die kein Forscher je erfüllen kann. Eine davon: Impfungen müssten zu 100 Prozent sicher sein. Schließlich würden sie gesunden Menschen gespritzt. Eine Bedingung, die niemand bei anderen Arzneien stellen würde, weil es ein Medikament ohne Nebenwirkungen schlicht nicht gibt.

Wieder andere haben mehr Angst davor, dass die Impfung ihnen schadet, als davor, ohne Impfung schwer krank zu werden. Vollkommen unlogisch, aber ebenfalls psychologisch erklärbar, sagt Cornelia Betsch: Wenn etwas Schlimmes (etwa eine Krankheit) als Folge einer eigenen Handlung (etwa einer Impfung) eintritt, bewerten wir das als schlimmer, als wenn dasselbe Ereignis ohne eigenes Zutun auftritt. Omission bias, Unterlassungseffekt, nennt die Psychologie dieses Phänomen.

Und noch etwas trägt aus psychologischer Sicht Mitschuld daran, dass Leute auf Impfungen verzichten. Cornelia Betsch schaut mich an und sagt: „Menschen wie Sie.“

Sie zeigt mir eine fiktive Talkshow, ein amerikanischer Satire-Sender hat sie produziert, um ein Phänomen zu erklären, das Psychologen false balancenennen, falsche Gewichtung. 

Ein Gesprächspartner behauptet, dass es den Klimawandel nicht gibt. Ein anderer widerspricht. Bevor beide ihre Argumente vortragen dürfen, bittet der Moderator Wissenschaftler hinzu, die ähnliche Ansichten vertreten. Er wolle, sagt der Moderator, das Verhältnis herstellen, in dem sich beide Parteien auch abseits der Kamera gegenüberstehen. 

Neben den Klimawandel-Leugner stellen sich zwei weitere Menschen. Neben den Wissenschaftler 96. 

„Das“, sagt Cornelia Betsch „wäre eine faire Diskussion, weil es die Realität richtig widergibt.“

Zum Handwerk eines Journalisten gehört es, alle beteiligten Seiten auf der Suche nach Wahrheit anzuhören. „Ähnlich wie bei Diskussionen über den Klimawandel gaukeln manche Journalisten beim Impfen aber eine Ausgeglichenheit vor, die so nicht existiert.“ 

In Wahrheit, so die Psychologin, seien Wissenschaftler, die am Impfen zweifeln, unter Tausenden von seriösen Wissenschaftlern absolute Einzelfälle. Journalisten aber setzen gern je einen Vertreter beider Gruppen an einen Tisch und lassen sie Argumente austauschen. 

Cornelia Betsch sagt: „Das macht etwas mit den Zuschauern. Sie glauben, zwei gleichwertige Standpunkte vor sich zu haben.“ 

Welche Wucht die false balancevon Journalisten haben kann, zeigte sich im Jahr 1998, als der britische Arzt Andrew Wakefield behauptete, dass die Dreifachimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus verursachen würde. 

Seine Studie war falsch. Aber als die Lüge aufflog, hatten Journalisten die Nachricht längst in der ganzen Welt verbreitet. 

Bis heute lässt sich die Fehlinformation nicht ausrotten; auch deswegen kommt es selbst in Ländern mit gutem Zugang zu Impfstoffen immer wieder zu Masernepidemien. 

Vielleicht hätte der Filmemacher David Sieveking eine andere Entscheidung getroffen, wenn er über die Techniken der Impfgegner Bescheid gewusst hätte. Vielleicht hätte man verhindern können, dass sein Film weitere Menschen verunsichert. Denn darum geht es im Kern: zu verhindern, dass eine Gruppe von Extremisten andere Menschen mit ihren Zweifeln ansteckt. 

Die Impfgegner, sagt Cornelia Betsch, könne man ohnehin nicht überzeugen, die würden nicht impfen, egal mit welchen Argumenten man sie zu überzeugen versuche. 

„Es sind die Impfskeptiker, die wir nicht verlieren dürfen.“ 

VI. Hoffnung

Es war im März vor vier Jahren, als das Ehepaar Barutcu vor einem Arzt saß und erfuhr, dass ihr Sohn bald sterben würde. 

Coskun Barutcu, ein Junge von damals 14 Jahren, hatte immer wieder das Gleichgewicht verloren, Worte vergessen und war nachts aus dem Bett gefallen wie ein dementer Greis. Der Arzt sagte den Eltern, man habe Antikörper gegen die Masern im Hirnwasser ihres Jungen gefunden. 

Dann: „Ihr Sohn hat SSPE.“

„Klingt wie eine Untersuchungsmethode, so wie MRT oder CT“, dachte der Vater. Seine Erinnerung an das Gespräch ist heute verschwommen, doch weiß er noch, wie er zu Hause am Computer saß, den Arztbrief in der Hand, und zu googeln begann. Er sagt: „Danach war mein Herz kaputt.“

Der Vater Cemil Barutcu, 43, ist Türke, vor 18 Jahren kam er als Gastarbeiter nach Deutschland. Ein fleißiger Mann, der im Dreischichtdienst bei einem Getränkehändler arbeitet, schwäbischen Dialekt spricht und gern Fußball spielt.

Sein Sohn Coskun ist in Deutschland geboren. Wie für alle Kinder vorgesehen, brachten ihn die Eltern als Säugling zum Kinderarzt, für die Vorsorgeuntersuchungen.

Das Masern-Virus ist einer der ansteckendsten Erreger auf unserem Planeten. Schon Tage bevor der charakteristische Hautausschlag auftritt, ist ein Mensch infektiös. Verlässt er das Wartezimmer oder steht er von seinem Sitz im Bus auf, dann bleibt das Virus zurück. Bis zu zwei Stunden überlebt es außerhalb des Körpers. 

Ein Infizierter kann so Ursprung von Zehntausenden weiteren Erkrankungen werden. Anders als gegen Diphtherie oder Tetanus können Kinder erst mit etwa einem Jahr gegen die Masern geimpft werden.

Wo sich der Junge Coskun Barutcu mit dem Virus infizierte, kann man heute nicht mehr sagen. Fest steht, dass er im Alter von fast neun Monaten, wenige Wochen, bevor man ihn hätte impfen können, erst Fieber und dann rote Punkte bekam. 

Und dass er das Pech hatte, mehr als 14 Jahre später an SSPE, der „subakuten sklerosierenden Panenzephalitis“ zu erkranken. 

Eine seltene Spätfolge der Masern, die oft erst viele Jahre nach der eigentlichen Infektion auftritt. Je nach Alter trifft es vier bis 60 von 100.000 ehemals Erkrankten. 

SSPE ist eine grausame Krankheit von bislang unbekanntem Mechanismus. Schrittweise zerstört sie das Gehirn und nimmt Patienten alles, für was es sich zu leben lohnt. Ein Leiden, das nicht heilbar ist, alle sterben daran, oft nach zwei, drei Jahren.

Das Zuhause der Familie Barutcu in Ingersheim bei Stuttgart ist klein, das Pflegebett steht im Wohnzimmer, dicht neben Esstisch und Sofa. Vier Jahre nach der Diagnose lebt der Sohn noch – länger als es Ärzte voraussagten. 

Coskun kann kaum mehr deutlich sprechen und nur mit Hilfe gehen und essen, auf einem Auge ist er fast blind. 

Er ist jetzt 18 Jahre alt, ein Junge mit zartem Bartwuchs, der seine Mutter überragt. Sie pflegt ihn rund um die Uhr.

Vor und nach dem Schichtdienst trainiert der Vater mit seinem Sohn in der Straße vor dem Haus das Gehen, an schönen Tagen sitzen sie in der Sonne oder essen Kuchen. „Er kann Sie verstehen“, flüstert er mir zu und stupst Coskun an. „Coskun, sag Hallo zu der Frau von der Zeitung!“ Coskun sieht mich an, mit wachem Blick. Er lacht.

Kurz nachdem ich die Familie Barutcu besucht habe, beobachte ich ein Mädchen auf einer Kletterburg in einer Stadt in Süddeutschland. Neben ihr steht ihre Mutter, sie hat das Kind bis jetzt nicht impfen lassen, aus Angst vor Impfschäden. 

Sie hat sich bereit erklärt, mit mir über ihre Entscheidung zu sprechen. Sie erzählt: „Die Anfeindungen waren brutal. Freunde fragten, ob ich möchte, dass mein Kind stirbt. Ein Kinderarzt nannte mich eine Rabenmutter.“ 

Sie habe, sagt die Mutter, jetzt eine Lösung gefunden, um Diskussionen zu vermeiden: Sie würde einfach lügen. 

Ich frage sie, ob sie keine Angst hätte, dass ihre Tochter krank würde. „Ich lasse mich von dieser Impfpropaganda nicht verunsichern“, antwortet sie. „Wissen Sie, es ist viel wahrscheinlicher, von einem Auto überfahren zu werden, als eine dieser Krankheiten zu bekommen.“ 

Ich stimme ihr zu, dass Autofahren ein größeres Sicherheitsrisiko ist, als sein Kind nicht zu impfen. Zumindest wenn viele andere Menschen geimpft sind.

Dann erzähle ich der Mutter von meiner Reise. Ich sage, dass die STIKO nicht nur Empfehlungen ausspricht, um etwa Todesfälle zu verhindern. Sondern auch, damit Kleinkinder nicht im Krankenhaus landen, um unser Gesundheitssystem zu entlasten oder einfach, um Schwächere zu schützen. Ich erzähle, dass diese Empfehlungen nicht immer perfekt sind, es andere Länder aber nicht zwingend besser wissen als wir. 

Ich stimme der Mutter zu, dass Ärzte nicht immer Ahnung von Impfungen haben und durch unser Meldesystem Nebenwirkungen durchrutschen können. Ich sage, dass die weltweite Vernetzung aller Meldesysteme aber hilft, dass in der Gesamtheit keine schweren Zwischenfälle übersehen werden. 

Ich erzähle, dass es in der DDR eine Impfpflicht gab und die Impfquote dort nach der Wiedervereinigung abnahm. Die Zahl der Allergien nahm jedoch zu. Das sei schon ein recht guter Hinweis dafür, dass Impfungen nicht mit Allergien in Zusammenhang stehen. 

An jenem Tag, als ich Antworten auf die Impfangst dieser Frau habe, komme ich zu einer Einschätzung, die ich in den letzten Monaten gewonnen habe: Ich finde es gut, dass es impfkritische Menschen gibt. Durch ihre Fragen sind Wissenschaftler und Behörden gezwungen, korrekt zu arbeiten. 

Die Interessenkonflikte der STIKO sind so zum Thema geworden, ihre Entscheidungsprozesse viel transparenter. Das Meldesystem des Paul-Ehrlich-Instituts wurde verbessert. Sollten in den nächsten Jahren neue Impfstoffe auf den Markt kommen, werden Impfkritiker nicht locker lassen, ehe mögliche Fragen öffentlich debattiert sein werden.

Doch, und das blenden Kritiker oft aus: Menschen werden krank, und Menschen sterben. 

Das geschieht meist nicht wegen einer Impfung, sondern weil sie nicht geimpft sind. Der Mutter sage ich, dass ich diese Feststellung nicht für „Impfpropaganda“ halte. 

Sondern für die Wahrheit. 

Die Mutter antwortet: „Ach wissen Sie, jeder hat seine eigene Wahrheit.“ 

„Glauben Sie denn nicht an die Wissenschaft?“ 

„Nein, aber ich glaube ja auch nicht an den lieben Gott.“

Der Arzt David Bardens, der als Medizinstudent einen Impfgegner verklagte, verlor den berühmten Masernprozess in zweiter Instanz, wegen einer juristischen Spitzfindigkeit. 

Der Impfgegner, urteilte der Richter, habe eine einzelne wissenschaftliche Veröffentlichung gefordert, um die Existenz des Masernvirus zu belegen. Bardens aber habe sechs Veröffentlichungen eingereicht, die nur gemeinsam den Beweis erbringen. 

Vielleicht ganz gut so, sonst wäre der Hass womöglich außer Kontrolle geraten, sagt Bardens heute. 

Es sei mehr um das Zeichen gegangen: dass man nicht einfach irgendwas behaupten kann, ohne die Konsequenzen dafür zu tragen. 

Bis heute hält er Vorträge nur unter Personenschutz. 

Bardens ist ein höflicher Mensch, einer, der sich dafür entschuldigt, wenn er das Wort „idiotisch“ gebraucht. 

Als ich ihn frage, weshalb er sich diesem Stress aussetze, mit Menschen diskutiere, die ohnehin nicht zuhören, zögert er mit einer Antwort. 

Dann sagt er: „Vielleicht ist das ein unpassender Vergleich, aber es ist wie mit den Nazis. Wenn niemand was gegen sie sagt, werden es immer mehr. Ich sehe es als meine Bürgerpflicht an, die Lügen der harten Impfgegner nicht kommentarlos stehen zu lassen.“

Cemil Barutcu, der Vater des 18-jährigen Coskun, sagt, er habe seinen Frieden gemacht mit dem Menschen, der seinen Sohn als Säugling mit den Masern ansteckte. 

Die Zeit, die bleibt, will er nicht mit Wut verbringen. Bis heute glaubt er, dass Coskun eine Ausnahme ist, dass er viel länger leben wird als andere SSPE-Erkrankte. 

Der Vater hat angefangen, jeden Monat einen kleinen Betrag von seinem Lohns beiseitezulegen. Wenn er in Rente geht, möchte er davon eine Wohnung in der Türkei kaufen. Dort sei es sehr günstig, solch eine Wohnung behindertengerecht auszubauen, ebenerdig, mit breiten Türen für den Rollstuhl. 

Vielleicht reiche das Geld sogar für einen kleinen Garten, das würde Coskun gefallen. 

15, 20 Jahre noch, sagt der Vater, dann könne es losgehen.

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