Flut an Lügen: Wie Politik und Medien gegen Desinformation kämpfen

30.09.2022 11:50

Ob Ukraine-Krieg, Klima oder Pandemie: Zu allen aktuellen politischen Themen kursieren Fake News im Internet. Nicht wenige davon werden von kremlnahen Aktivisten verbreitet. Doch es gibt auch Menschen, die gegen die Flut von Lügen ankämpfen.

Alice Echtermann beschäftigt sich seit Jahren mit Fake News, mittlerweile ist sie an so gut wie alles gewöhnt. Die Journalistin leitet das Faktencheck-Team der Rechercheredaktion "Correctiv". Ihr Team arbeitet wie eine Nachrichtenredaktion: Jeden Morgen sichtet es die Nachrichtenlage, identifiziert wichtige Themen und beobachtet, ob Fake News dazu kursieren. Beobachten, recherchieren, widerlegen, einordnen – ein Kampf wie  gegen Windmühlen, Tag ein, Tag aus.

Falschnachrichten: von Unfruchtbarkeit bis zu Neonazis

Die Windmühlen, gegen die Echtermann und ihr Team kämpfen, bestehen aus Bildern, Posts und Videos. Etwa das Foto eines glatzköpfigen Mannes, dessen gesamter Oberkörper mit Nazi-Tätowierungen bedeckt ist. "Sieg Heil" steht auf seinen Schultern, auf seiner Brust prangt ein Porträt von Adolf Hitler, den Arm zum Hitlergruß erhoben. Laut Verfasser des Posts soll er Chef der Kiewer Polizei sein – tatsächlich handelt es sich aber um einen bekannten russischen Neonazi. Das hat das "Correctiv" recherchiert, aufgeschrieben und als Faktencheck gepostet. Doch Meldungen wie diese sind noch lange nicht der Höhepunkt der Dreistigkeit.

"Mittlerweile schockt mich der Inhalt der Meldungen kaum noch. Ich finde es eher beängstigend, wenn einzelne Falschnachrichten großen Erfolg haben", sagt Alice Echtermann. Zum Beispiel während der Corona-Pandemie, als das Gerücht die Runde machte, die Corona-Impfung könne Frauen unfruchtbar machen. Das "Correctiv" checkte die Meldung – und fand heraus, dass die Erzählung auch schon bei anderen Impfungen verbreitet wurde. Corona-Gegner hatten sie einfach passend umgeschrieben.

Desinformation oder Fake News – Was ist der Unterschied?

Solche Phänomene als "Fake News" zu bezeichnen, wäre laut Alice Echtermann allerdings problematisch. "Wir sagen nicht ‚Fake News‘, weil das ein Begriff ist, der von Politikern wie Trump missbraucht wurde, um seriöse Medien zu diffamieren", sagt die Journalistin.

Sie bezeichnet absichtlich verbreitete Falschnachrichten als "Desinformation". "Da kann man klar sagen, dass gezielt und gewollt Unwahrheiten verbreitet werden", sagt die Journalistin. Ohne Absicht geteilte Unwahrheiten bezeichnen sie und ihr Team als "Falschinformationen".

Verbreitet werden solche Kampagnen vorrangig in den sozialen Medien. Auf Youtube-Kanälen wie "Djuki San" verbreitet etwa die Influencerin Alina Lipp die Sichtweise der russischen Regierung und leugnet unter anderem die Kriegsverbrechen in Butscha. Auf Telegram gibt es mehrere Kanäle, die russische Propaganda betreiben und der russischen Söldnergruppe "Wagner" nahestehen. Auch auf Twitter finden regelmäßig Desinformationskampagnen statt.

Journalistin: "Vertrauen in die Medien wird untergraben"

Dort stammen die Posts oft von Fake-Accounts, hinter denen keine echten Menschen, sondern Programme stecken. Das lässt sich auch daran erkennen, dass die Zahl der Neuregistrierungen bei Twitter mit Beginn des russischen Angriffskrieges in die Höhe geschossen ist. Laut Alice Echtermann gibt es inzwischen aber auch Gruppen, die ganze alternative Zeitungen drucken lassen.

Falsch- und Desinformationen kursieren größtenteils zu Themen, die die öffentliche Aufmerksamkeit erregen. In den vergangenen Jahren seien das vor allem Migration, Klimawandel und die Corona-Pandemie gewesen, erzählt Echtermann. Bei diesen Themen seien es maßgeblich deutsche Akteure gewesen, die Desinformation verbreitet hätten. Seit Beginn der russischen Invasion beobachte man allerdings ein neues Phänomen: Ausländische Accounts, die Einfluss auf deutsche Debatten nehmen – und versuchen, das Vertrauen in Staat und Medien zu untergraben.

Dieses Phänomen beobachtet auch Christiane Hoffmann. Sie ist stellvertretende Regierungssprecherin und stellvertretende Leiterin des Bundespresseamtes. "Wir erleben seit Beginn des russischen Angriffskrieges eine ganz neue Schlagkraft und Heftigkeit von Desinformationskampagnen", sagt Hoffmann.

Bundesregierung sieht klare Gefahr in russischer Einflussnahme

Schwerpunktmäßig befasse man sich aktuell mit Erzählungen, die auf der Linie des Kreml liegen. "Russland versucht, die westlichen Demokratien zu spalten", sagt die Regierungssprecherin.

Auch die Bundesregierung befasst sich deswegen mit dem Thema. Unter Federführung des Innenministeriums werde im Bundespresseamt die Medienlandschaft beobachtet. Außerdem seien das Auswärtige Amt sowie das Verteidigungsministerium beteiligt. Wenn Desinformationen über die Bundesregierung kursieren, liefere das jeweilige Ministerium die richtigen Fakten – die dann über verschiedene Kanäle an die Öffentlichkeit gebracht werden.

Alice Echtermann sieht die Bundesregierung auch in der Verantwortung, auf einer anderen Ebene gegen Desinformationskampagnen vorzugehen. "Ich glaube, dass die Regierung Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung leisten sollte", sagt die Journalistin. Menschen, die anfällig für Desinformation seien, hätten häufig weniger Vertrauen in die Regierung – weswegen eine Richtigstellung durch sie selbst wenig Sinn hätte. Diese sollte Aufgabe unabhängiger Journalisten sein. Die Bevölkerung könne aber durch Bildungsarbeit geschult werden, um medienkompetenter zu werden, so Echtermann.

Strafverfolgung: "Grundsätzlich darf jeder Unsinn reden"

Zu ermitteln, wer hinter den hunderten Fake-Profilen und Kanälen steckt, gestaltet sich sehr schwierig. In vielen Fällen decken sich die Erzählungen der Online-Aktivisten mit der offiziellen Linie des Kreml – was aber nicht automatisch bedeutet, dass eine direkte Verbindung oder Finanzierung bewiesen werden kann. "Die Indizien sind allerdings erdrückend", beschreibt es Christiane Hoffmann.

Und die Strafverfolgung erweist sich auch aus einem anderen Grund als schwierig: "Wir haben in Deutschland aus gutem Grund eine weit gefasste Meinungsfreiheit. Das gehört zur Demokratie: Jeder darf Unsinn erzählen, solange er nicht strafrechtlich relevant ist", sagt Christiane Hoffmann. Letzteres sei etwa bei Holocaustleugnung oder Volksverhetzung der Fall.

Regierungssprecherin: "Das geht auf Verschwörungsmythen zurück"

Unterdessen liegt es auch an der Bevölkerung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. "Ich denke, dass wir in den letzten Jahren eine Sensibilisierung erlebt haben – durch die Corona-Pandemie sind viele Menschen auf Falschnachrichten aufmerksam geworden", sagt Alice Echtermann. Viele Menschen hätten allerdings immer noch Probleme damit, Meinungsartikel von Fakten zu unterscheiden. Ein weiteres Problem sei, dass weiterhin oft falsche Grafiken und Meldungen ohne Absicht weitergeleitet würden.

In einer Sache sind sich Christiane Hoffmann und Alice Echtermann sehr einig: Desinformationen stellen eine reale Gefahr für die Demokratie dar. Oft gehe es den Akteuren hinter den Kampagnen gar nicht mehr darum, die Menschen von einzelnen Theorien zu überzeugen. Vielmehr ginge es darum, sie so grundsätzlich zu verunsichern, dass sie irgendwann niemandem mehr glauben.

Ständig neue Meldungen – der Kampf gegen die Flut von Lügen

"Viele der verbreiteten Desinformationen lassen sich auf die grundsätzliche, übergeordnete Verschwörungserzählungen zurückführen", sagt Christiane Hoffmann. Gegen die arbeitet auch das "Correctiv", indem es lange Hintergrundrecherchen zu den jeweiligen Themenblöcken veröffentlicht.

Doch für Alice Echtermann ist und bleibt es ein Kampf gegen Windmühlen. Jeden Tag kommen neue Desinformationen dazu. Und mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird das Problem auch nicht aufhören, mehr noch, wahrscheinlich sogar wachsen. Und während die Meldung des angeblichen Kiewer Polizeichefs widerlegt und korrigiert wurde, kursieren in der Zwischenzeit schon wieder neue Meldungen, die Echtermann und ihr Team abarbeiten.

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