Du bist so viel mehr als deine Implantate

01.02.2024 10:30

Schriftsteller Simon Urban hat sich auf Bitten des stern das Dschungelcamp angeschaut. Und muss erleben, wie sich die allgegenwärtige emotionale Inkontinenz der Bewohner wie ein endloser feuchter Fadenwurm durch die Sendung zieht.

Simon Urban

Wohl keine andere Sendung im Deutschen Fernsehen ist so oft als Trash gebrandmarkt worden wie das Dschungelcamp. Allein dieser gefühlte Rekord sagt schon einiges aus über das Format, bei dem Promis, die kaum einer kennt, Känguru-Hoden ins Gebüsch göbeln oder minutenlang in einem Kakerlakensarg ausharren müssen. Daniel Küblböck, der einst diese unvergessene Schaben-Sternstunde des deutschen TV-Entertainments vor einem Millionenpublikum zelebrieren durfte, weilt schon seit 2018 (!) nicht mehr unter uns (ein echter Sarg blieb ihm dennoch unvergönnt) und man reibt sich verwundert die Augen, die noch feucht sind von der Trauer um Cora Schumachers frühe Ausscheidung im laufenden Durchgang: So lange gibt es das Camp schon? Ja, so lange gibt es das, genau genommen seit 2004 (wenn auch mit Unterbrechungen), man könnte inzwischen mit einiger Berechtigung von einem Klassiker "beim RTL" sprechen. Was TropifruttiAlles nichts, oder?! und Samstagnacht nicht vergönnt war, schafft der Dschungel ohne Hängen, aber mit Würgen – Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! hat sich fraglos zum Highlander unter den privaten Hinguckern gemausert. 

Ist unsere stolze Fernsehnation, die gerade noch den endgültigen Verlust von  Thomas Gottschalk verdaut, etwa mit nichts als dem erzwungenen Verzehr von Bio-Pimmeln, -Vaginas und -Ani (der Plural, nicht der Krimi-Schriftsteller) allerlei unappetitlichen Getiers derart nachhaltig zu faszinieren? Ist kulinarische Qual wirklich gleich Quote? Lässt sich der unübersehbare Priapismus des Dschungelcamps in der TV-Landschaft tatsächlich so einfach erklären? Natürlich darf man die sehr, sehr, sehr lustige zietlow'sche Moderation nicht unterschlagen. Und auch nicht das valide Interesse junger Follower*innen an der Physis und Potenz ihrer Idol*innen der einschlägigen digitalen Selbstvermarktungsplattformen. Doch wer ewig lebt, so wie #IBES, der muss zwangsläufig mehr zu bieten haben als kotzen, Kalauer und Körperkult. Er muss immer aufs Neue eine zeitgeistige Relevanz erzeugen können, die die Zuschauer auf sich selbst zurückwirft, die Identifikation ermöglicht, einen Nerv trifft, tiefere Ebenen anspricht, kurz: die Wahrhaftigkeit zu bieten hat – und sei es nur unterbewusst. 

Wer am Montagabend die 11. Folge der aktuellen Staffel verkonsumiert hat, ohne über der narkotisierenden Persönlichkeit des David Odonkor in einen traumlosen Schlaf zu sinken, der konnte zumindest eine Ahnung von dem gewinnen, was das Dschungelcamp jenseits des etablierten Ekels und gut gescripteter Gags zu bieten hat. Dafür musste man allerdings länger hinschauen (genau genommen bis Mitternacht) und selbst dann war der oberflächliche Eindruck zunächst ernüchternd. Denn auf den ersten Blick gab es nur eine zunehmend genervte Gruppe larmoyanter Lappen zu sehen, bei denen der Verzicht auf zivilisatorische Errungenschaften bei gleichzeitigem sozialen Dauerstress mit den Wettbewerbern um die Krone des Urwalds erkennbare Abnutzungserscheinungen hinterlassen hatte. Ab einem gewissen Zeitpunkt konnte wohl niemand mehr sagen, ob der Boden des Camps vom steten tropischen Regen oder aber vom Tränenfluss der Kandidaten derart aufgeweicht war, dass die Schuhe im Schlamm schmatzten. Die allgegenwärtige emotionale Inkontinenz der Bewohner zog sich wie ein endloser feuchter Fadenwurm durch die Sendung, so dass beim Zuschauer tatsächlich Erleichterung aufkam, als nach rund 45 Minuten endlich zur Dschungelprüfung gerufen wurde. 

Heinz Hoenig (erste Prüfung überhaupt!), Fabio Knez und Mike Heiter durften sich dabei zur sichtbaren Freude der Moderatoren durch liebevoll drapierte Eissorten mit Namen wie Erd-bähApri-kotz oder Spei-delbeere probieren, hinter denen sich die üblichen glitschigen Gemeinheiten und Krabbeleien verbargen. Wie Staubsaugervertreter Fabio drei große Kugeln – einem seiner HYLA-Topsaugermodelle gleich – kraftvoll und ohne größere Speiserohrverstopfung inhalierte, war durchaus sehenswert; die bewundernden Blicke der beiden Muskelmänner Mike und Fabio auf den hochkonzentriert essenden Senior Heinz hatten sogar etwas Anrührendes. Doch nach dem letzten Tropfen Mäuseschwanz-Milchshake, sieben erspielten Sternen und der Rückkehr der größtenteils siegreichen Recken ins Camp (Mike hatte sein 1000-jähriges Ei(s) eher unfreiwillig der Flora übergeben) setzten bei anderen Campern sogleich wieder Tristesse und hemmungslose Melancholie ein – keine Frage, Folge 11 war so etwas wie das Tal der Tränen der laufenden Staffel. 

Was der mit traurigen Akkorden unterlegte Kandidaten-Pathos sowie die übliche, auf Krawall gebürstete Schnitt-Gegenschnitt-Dauerzuspitzung der RTL-Drama-Cutter am Montagabend verbargen, machte der zweite, nüchternere Blick auf die Geschehnisse hingegen um so sichtbarer: Besagte Folge 11 lässt sich auch ganz anders betrachten, gewissermaßen unter invertierten Vorzeichen – oder, um ein Bild aus der Fotographie zu bemühen: positiv statt negativ. Sie kann auch als ein kleines, dank der naturbelassenen Rahmenbedingungen leicht müffelndes Fest der Selbstbehauptung, der Gleichberechtigung und der konsequenten Überwindung tradierter Rollenbilder gelesen werden und würde damit nicht nur perfekt in unsere Zeit passen – sie besäße auch die oben bereits vermutete Relevanz, die über das Ha-ha-ha des hundertsten Hühnerfuß-Hotdogs hinausginge. 

Das zentrale Motiv für diese alternative Sichtweise flimmerte gleich zu Beginn der Sendung über den Bildschirm. Es zeigte Iron Mike mit dem Influencer Twenty4Tim (2,6 Millionen Follower auf Insta) im vertrauten Männergespräch. Während früherer Staffeln (ich erinnere mich gut daran, zu Küblböck-Zeiten mit meiner damaligen Mitbewohnerin Melanie Hölting-Eckert in unserer WG-Küche jeden, aber wirklich jeden Abend Radio Télévision Luxembourg eingeschaltet zu haben) konnte eine solch virile Gesprächskonstellation als Garant für einen herzerwärmenden Locker Room Talk gelten. Egal, ob gelästert, gewitzelt oder sich aufgegeilt wurde – ein gerüttelt Maß von dem, was dem aufgeklärten Betrachter heute landläufig als Sexismus gilt, war dem frühen Dschungelcamp-Fan beim Männerstammtisch im Gebüsch so gut wie sicher. Auch deshalb schaltete man ja schließlich ein. Entsprechende verbalerotische Entgleisungen – ob sie nun unterlaufen oder intendiert waren – schafften es selbstverständlich am nächsten Tag in die Boulevardpresse und sorgten für Aufregung, Lacher, noch mehr Quote. 

Doch wir schreiben das Jahr 2024. Die Welt – und mit ihr der Dschungel – haben sich unverkennbar weiter gedreht (in mancher Hinsicht, könnte man meinen, vielleicht sogar etwas zu schnell). Mike und Twenty4Tim unterhielten sich bei ihrem Stelldichein jedenfalls nicht etwa über die Körbchengröße von Leyla Lahouar oder den Allerwertesten von Kim Virginia. Stattdessen sprachen sie über Liebe und Treue. Darüber, wie sehr Mike seine Tochter aus früherer Beziehung vermisst, dass er gerne eine neue feste Partnerin hätte und eine echte Familie. Ein Nest. Twenty4Tim hingegen erzählte von der mangelnden Akzeptanz des eigenen Vaters für seine lackierten Fingernägel, worauf Mike ihn ermutigte: "Du bist so wie du bist und so wie du bist, bist du gut.“ Ein Familientherapeut hätte nicht einfühlsamer reagieren können. Wichtig zu wissen ist auch, was die beiden modernen Männer während ihrer kinderprogrammtauglichen Konversation taten. Sie saßen nicht etwa breitbeinig auf einem dicken Stamm – sie wuschen brav ihre Wäsche in einem Trog. Zwei woke Hausmänner, wie sie im "Busche" stehen. Abgerundet wurde dieses vor Werten, Verständnis, Harmonie und Familiensinn strotzende Sittengemälde durch Mikes Brust-Tattoo God is Love. Kurz musste man sich vergewissern, noch "beim RTL" zu sein und nicht in einem Anflug geistiger Umnachtung zu Bibel TV geswitcht zu haben. 

Die erbauliche Szene am Waschtrog sollte nicht der einzige Moment am Montagabend bleiben, der mit einem blinkenden Neonpfeil auf die Gegenwart und ihre neuen Gewissheiten verwies – und damit auch auf all die teils skurrilen, teils äußerst skurrilen Nebenwirkungen, die nun mal unvermeidbar sind, wenn ein modernes Denken und Fühlen das alte sukzessive überschreibt. Dass Leyla Mike den Rücken mit ihren "Wurstfingerchen" massierte (und nicht andersherum) kann noch als emanzipatorische Randnotiz gewertet werden. GZSZ-Mime Felix von Jascheroff hingegen – sonst eher einer der Lautsprecher der Gruppe – schlenderte zu traurigen Gitarrenklängen von Elmiene sinnierend und einsam durchs Gestrüpp wie einst der WM-Sieger Franz Beckenbauer über den Rasen des römischen Olympiastadions. Kurz darauf schluchzte er auf seiner Liege in Lucys regennasse Ohren, dass die Kraft ihn verlasse, obwohl er doch immer geglaubt habe, ein starker Mensch zu sein. Die neuzeitliche Gesetzmäßigkeit, dass es gerade seine offen ausgelebten Gefühle sind, die Felix zu einem wirklich starken (weil im TV weinenden) Mann machen, der seine Schwäche erkennt und akzeptiert, ist bestimmt nur noch eine Schüssel Quallenknödel weit entfernt. 

Den Höhepunkt der neuen Männlichkeit am Montag markierte jedoch zweifelsohne David Odonkor, der schon auf seinem RTL-Pressefoto so locker und fröhlich aussieht, als wäre er gerade vom FC Pjöngjang verpflichtet worden. Nach langen Minuten mürrischer Blicke bat der sichtlich gepeinigte Odonkor die mit Bikinis bekleideten Damen im Camp, doch bitte schön endlich ihre Blöße zu bedecken – den ganzen Tag lang sehe er nur nackte Hintern. Der Schock bei den Angesprochenen saß tief, ganz besonders bei Kim Virginia, die ihr Leben erklärtermaßen lieber ohne Hose lebt. Eine Badeburka hatte allerdings auch niemand dabei. Odonkors etwas schiefe Erklärung, die Sendung sei ja "keine Dating-App" machte es dann nicht besser. Ob der Ex-Nationalspieler, der mittlerweile mehr TV-Show-Teilnahmen als Fußballspiele vorzuweisen hat, im Auftrag einer höheren Moral handelte (God is Love, aber bitte mit Hose), oder schlicht Angst bekam, angesichts permanenter fleischlicher Verlockungen vom Flügelspieler zum Stürmer zu mutieren, blieb offen. Sein massives "Poblem" kann jedenfalls als weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass die Zeiten auch am einst so unzüchtigen Urwald von RTL nicht spurlos vorüberziehen – was die textil bevormundeten Frauen zurecht und wortreich beklagten. 

Der schönste Montags-Satz im domestizierten Knigge-Dschungel soll an dieser Stelle natürlich nicht unterschlagen werden. Twenty4Tim sprach ihn zu Kim Virginia, als er ihr gefühlvoll kundtat: "Du bist so viel mehr als deine Implantate." Wie viel mehr, könnte man ergänzen, hängt allerdings von den Implantaten ab. 

Bleibt die Frage: Darf man das Dschungelcamp ­angesichts seiner bürgerlichen, religiösen, ästhetischen und moralischen Botschaften nun eigentlich noch als Trash-TV bezeichnen, oder nicht? Ich vermute: nein. Denn statt um Larven scheint es immer mehr ums Entlarven all dessen zu gehen, wofür dieses Format einst stand. Damit, so die gute Nachricht vom Montagabend, liegt das Format voll im Trend und macht sich gleichzeitig fit für weitere Staffeln. Die Chancen, dass seine Bewohner für ein junges Publikum relevant bleiben, weil sie glaubwürdige Vertreter ihrer geläuterten Generation sind, stehen gut. Es wird eine Frage der Zeit sein, bis sich der erste Klimaaktivist mit irgendeinem Spinnenschleim an Dr. Bob festklebt. Mit dieser Einstellung steht einer (auch kommerziell) erfolgreichen Zukunft nichts im Wege. Das Dschungelcamp ist jetzt endgültig eine Reality-Show geworden. 

Ach so: Odonkor wäre nicht Odonkor, wenn er mit seinem Verhüllungsaufruf kein Eigentor geschossen hätte. Der Mann, der wollte, dass sich alle anziehen, musste am Ende der Folge ausziehen. Aber keine Sorge, David: Du bist so wie du bist und so wie du bist, bist du gut. 

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