Ausstieg bei den Zeugen Jehovas: Mein Leben wurde mir neu geschenkt

19.02.2020 14:49

Sophie Jones ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen. Sie hat geschafft, was sich nur wenige trauen: Mit 19 Jahren ist die junge Frau aus der Sekte ausgestiegen. Mit Wunderweib spricht sie über Frauen zweiter Wahl, ein Leben in der Parallelwelt und die erste Zigarette danach. 

Eine junge Frau sitzt in Bikini am Strand. Im Hintergrund wehen Palmen im Wind, ihre dunklen Haare sind noch nass. Ein tätowierter Halbmond blitzt unter einer Strähne auf ihrer Schulter auf.

Noch vor wenigen Jahren wäre diese Szenerie undenkbar gewesen. Sophie Jones ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen - und mit dem Erwachsenwerden ausgetreten. "Ich habe diesen Schritt nie bereut", sagt die heute 23-Jährige mit ernstem Blick in die Kamera. Trotzdem war der Ausstieg kein leichter. Heute möchte Sophie Jones ihre Erfahrung nutzen, um anderen Menschen zu helfen. Mit Wunderweib spricht sie über das Leben in der Sekte - und das danach.

Wie es ist, bei den Zeugen Jehovas auszusteigen

Sophie, es gibt wenige, die so offen über ihre Zeit bei den Zeugen Jehovas und ihren Ausstieg sprechen. Wieso hast du dich entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen?

“Ich habe das lange Zeit einfach erstmal in eine Kiste im Kopf verpackt. Aber ich habe gemerkt, dass mich das doch noch belastet und ich nicht wirklich abschalten kann. Mir hätte es damals wirklich geholfen, wenn jemand in meinem Alter über seine Erfahrungen berichtet hätte. So dass man einfach weiß, okay, ich bin nicht alleine mit dem Erlebnis. Ich dachte okay: Ich kann diese negative Energie nehmen und in etwas Positives verpacken.“

Wie ging es dir unmittelbar nach dem Ausstieg?​

"Eigentlich gut. Als Zeuge ist das Leben ja schon ein bisschen vorherbestimmt, man ist nur mit Gott beschäftigt. Wenn man das nicht mehr ist, hat man plötzlich wahnsinnig viel Zeit – und alle Möglichkeiten der Welt. Man kann plötzlich alles machen, was man möchte, sich anziehen, wie man möchte, sich entwickeln, wie man möchte. Man kann sich Freunde suchen, wie man möchte! Also ein wahnsinniges Gefühl der Befreiung – aber ich konnte es nicht gleich so genießen. Das war schon eine Umgewöhnung. Die ganzen Tage sitzt man dann erstmal zuhause. Dann hatte ich immer Angst, dass ich wen treffe von früher, dass sie mich ansprechen.“

"Es kann nicht sein, dass ich mein Leben lang so leide"

Wie lange war dein Ausstieg vorher geplant?

„Der ausschlaggebende Punkt war eigentlich mein Vater, der war ausgeschlossen worden. Nach meiner Taufe musste ich den Kontakt komplett abbrechen. Das habe ich überhaupt nicht gut verkraftet. Dann hat sich meine damalige beste Freundin auch noch ausschließen lassen, da musste ich auch noch den Kontakt abbrechen. Da hat es gereicht. Ich habe so sehr gelitten, dass ich aufgewacht bin und dachte, es kann ja nicht sein, dass ich jetzt mein Leben lang so leide. Die Leute, die ich liebe, darf ich nicht sehen, das will ich nicht.

Dann habe ich mir eine Liste gemacht: Was hält mich da, was hält mich nicht? Was verliere ich, wenn ich gehe und was gewinne ich? Verlieren tut man ja eine ganze Menge: Das ganze bisherige Leben, die Kontakte, die man hatte, die Chance, im Paradies zu leben, nicht mehr krank zu werden – man hat dann ja auch Gottes Segen nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, meine Persönlichkeit steckte ganz tief drinnen in einer Hülle und kommt nicht heraus. Dann habe ich geplant, wann gehe ich das letzte Mal hin, wem ich das sage und so weiter.“

"Für sie bin ich jetzt schon tot"

Wie haben die Menschen reagiert, die du eingeweiht hast?

„Naja, für Zeugen ist es, wenn jemand ausgeschlossen wird, als würde derjenige sterben. Das ist nicht krass gesagt, das ist wirklich so. Also als würde ich hinter dem Teufel stehen und wenn der Weltuntergang kommt, dann bin ich tot. Für sie bin ich also jetzt schon tot, weil ich halt nicht mehr Gottes Schutz habe. Ich bin schlimmer als ein normaler Mensch.“

Wie kann man sich so einen Alltag bei den Zeugen Jehovas vorstellen? 

„Wie in einer anderen Welt. Die Zeit ist sehr gut mit Aktivitäten gefüllt. Früher gab es drei, später zwei Zusammenkünfte pro Woche. Die muss man dann auch vorbereiten, die Themen werden vorher studiert, am besten sollte man sich also in der Freizeit einmal treffen. Dann sollte man in der Woche in Predigtdienste gehen. Und dann sollte man ein persönliches Bibelstudium machen, also man hat eigentlich volles Programm.“

Fühlen sich deswegen Menschen von den Zeugen Jehovas angezogen?

„Ja, ich denke für Menschen, die schwach sind oder einfach Struktur in ihrem Leben brauchen, wirken die Zeugen Jehovas ideal, denn sie kriegen dadurch eine große Gemeinschaft. Das natürlich erst einmal schön, besonders für Leute, die das so nicht kennen. Man hat auf einmal ein riesiges soziales Umfeld. Man kriegt Struktur in sein Leben und viele brauchen das einfach. Die sind dann natürlich anfälliger.“

"Frauen stehen direkt unter den Männern"

Was waren deine konkreten Gründe, auszusteigen?

"Ich finde das Kontaktverbot immer am schlimmsten. Was mich als Frau schon immer berührt hat: Man darf nicht abtreiben. Auch nicht in Ausnahmefällen, dann wird man ausgeschlossen. Wenn du vergewaltigt und schwanger wirst, darfst du das Kind nicht abtreiben. Als Frau solltest du doch selbst entscheiden, ob du das Kind deines Peinigers austrägst."

Wie ist das Frauenbild bei den Zeugen Jehovas?

„Das ist auch so ein Punkt. Frauen stehen direkt unter den Männern. Erst kommt Jesus, dann der Mann, dann die Frau. Frauen stehen eindeutig an zweiter Stelle. Gleichberechtigung gibt es nicht. Dann sind die auch absolut homophob. Man darf homosexuell sein, es aber nicht ausleben. Man kann solche Sachen nicht unterdrücken. Genau wie das Bluttransfusionsverbot. Das sind alles Punkte, wo ich sage, das ist absolut krank. Kein Weihnachten, kein Geburtstag, gar nichts darfst du feiern.“

"Wenn du zweifelst, ist dein Glauben zu schwach"

Kommt dann nicht jeder zu dem Punkt, dass man das Gefühl hat, aussteigen zu wollen?

„Ich glaube schon, dass sehr sehr viele an diesem Punkt sind. Bleiben aber drin, weil sie sonst keinen Kontakt zu ihren Liebsten haben dürfen. Da sind wirklich große Familienclans. Da kann keiner sagen, er geht – weil er dann wirklich alleine da steht. Es wird ja immer gesagt: Wenn du zweifelst, dann ist dein Glauben an die Wahrheit zu schwach. Damit haben sich die Zeugen eigentlich etwas Gutes ausgedacht, um ihre Mitglieder psychisch zu manipulieren – das ist allein deine Schuld. Da setzt dann die Gehirnwäsche ein. Man hängt in einem Teufelskreis fest.“

Was rätst du Menschen, die zweifeln?

„Am wichtigsten ist es, sich zu überlegen, was will ich in meinem Leben erreichen, was würde mich glücklich machen. Ich rate dann immer, sich nebenbei ein Doppelleben aufzubauen. Dass man sich ein soziales neues Umfeld schafft, so dass man, wenn man aussteigt, nicht alleine da steht.“

Wie möchtest du anderen helfen?

„Mir geht es wirklich darum, Kinder und Jugendliche anzusprechen, die in einer ähnlichen Lage sind. Ich bin zudem in einem Verein aktiv, der Zeugen Jehovas, die aussteigen wollen, hilft.“

"Ich bin viel dankbarer für all die schönen Sachen"

Findest du, dass es derzeit genug Unterstützung gibt?

„Ehrlich gesagt nicht. So richtig eine Stelle, wo man hingehen kann, die sich auch rechtlich auskennen, fällt mir nicht ein. Da wäre aktuell das Jugendamt wohl der beste Ansprechpartner.

Deswegen finde ich diese Kontakte so wichtig. Ein Mensch, dem du wichtig bist, wird sich immer kümmern und dich unterstützen. Man findet immer Menschen, die gut zu einem sind, man muss sich bloß trauen, zu fragen. Man sollte sich auch nie dafür schämen. Ich habe mich auch immer wahnsinnig geschämt. Ich habe das mit mir selber ausgemacht, aber das ist nicht gut.“

Was war das erste, was du nach deinem Ausstieg gemacht hast?

„Dadurch dass ich nebenbei dieses Doppelleben hatte, war es eher ein schleichender Prozess. In der ersten Zeit war ich wahnsinnig paranoid. Ich hatte immer Angst, dass mir jemand über den Weg läuft. Dann war ein Punkt sicher die erste Zigarette in Freiheit. Ich habe das Gefühl, dass ich Dinge jetzt viel intensiver wahrnehme. Ich bin viel dankbarer für all die schönen Sachen in meinem Leben. Weil es für mich nicht selbstverständlich ist. Ich habe das Gefühl, mir wurde mein Leben noch einmal geschenkt.“

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